Bei dieser AfD-Attacke würde ich auch mit vollem Mund sprechen
Eine Bundestagsabgeordnete wird in einer Sitzung angegangen, der Vorfall mutiert zum „Joghurtgate“. Dahinter steckt ein perfides Motiv.
MEINUNG
Dieser Tage lässt sich mal wieder ein Lehrstück in rechter Diskursverschiebung beobachten, orchestriert aus dem Umfeld der AfD. Allerdings kommt es dieses Mal direkt aus dem Bundestag, der Herzkammer unserer Demokratie. Das sollte uns alle umso mehr alarmieren. Was ist passiert?
In der Sitzung des Innenausschusses am 10. Mai soll der fraktionslose Bundestagsabgeordnete Matthias Helferich (AfD) seiner Kollegin Lamya Kaddor (Grüne) eine spitze rassistische Bemerkung an den Kopf geworfen haben, wie t-online berichtet. Kaddor hatte es gewagt, während der Sitzung Müsli zu essen, und richtete dabei das Wort an einen Abgeordneten der AfD-Fraktion. Dabei hatte sie „wohl noch ein bisschen Müsli im Mund“, wie sie die Szenerie t-online beschreibt.
Lamya Kaddor hat also mit vollem Mund gesprochen, als sie energisch einem AfD-Kollegen widersprach. Der habe den syrischen Diktator Assad als Quelle für Informationen über arabische Clan-Strukturen in Deutschland angeführt (weil autokratische Gewaltherrscher ja bekanntlich so vertrauenswürdig sind). Da würde ich im Zweifel auch mit vollem Mund sprechen, bevor ich den richtigen Moment zur Gegenrede verpasse.
Rassismus mitten im Bundestag
Diesen banalen Umstand hat Matthias Helferich allem Anschein nach sofort genutzt, um seine syrischstämmige Kollegin vor dem versammelten Innenausschuss als ungehobelte Ausländerin darzustellen. Mit vollem Mund zu sprechen gehöre nicht „zur abendländischen Kultur“, sie möge sich doch bitte „die Hand vor den Mund halten“, zitiert Kaddor den 34-Jährigen. Eine rassistische Attacke mitten im Hohen Haus des deutschen Parlaments.
Der Verweis auf das (christliche) Abendland ist in der extremen Rechten ein üblicher Talking Point. Vor allem in der Neuen Rechten, der die AfD sehr nahe steht, ist „Abendland“ ein beliebter Kampfbegriff, um gerade Menschen mit muslimischem Hintergrund auszugrenzen und als „fremd“ zu markieren. Denn die gehören in deren rassistischer Logik nun mal ins islamisch geprägte Morgenland, egal wo sie geboren und aufgewachsen sind und welche Staatsangehörigkeit sie haben.
Kaddor kennt diese Form des antimuslimischen Rassismus natürlich und machte die Grenzüberschreitung am 11. Mai auf Twitter öffentlich.
Gezielte Provokation eines Rechtsextremisten
Natürlich hat Matthias Helferich, alles andere als ein unbeschriebenes Blatt, seine spitze Bemerkung gegen seine Kollegin ganz bewusst so gesetzt. Er hat die Religionspädagogin und Publizistin Lamya Kaddor, die sich seit Jahren für Integration einsetzt, gezielt rassistisch beleidigt. Um Tischmanieren geht es ihm allenfalls am Rande. Seit Chat-Leaks von 2021, veröffentlicht kurz vor der letzten Bundestagswahl, ist Helferich unter politischen Beobachter:innen auch als „das freundliche Gesicht des NS“ bekannt.
Aus den Leaks geht unter anderem hervor, dass seine betont gutbürgerliche Fassade „ja nur Schein“ sei und er offenbar gute Kontakte in die Neonazi-Szene von Dortmund Dorstfeld hatte, wie etwa die taz berichtete. Von Hitler spricht er darin als dem „Führer“. Diese Leaks, die er heute wenig glaubwürdig als fehlgeleitete Witze darstellt, sind auch der Grund, warum er nicht Teil der Bundestagsfraktion seiner Partei wurde.
Helferich hat seither viermal versucht, in die AfD-Fraktion aufgenommen zu werden, zuletzt erst im März. Jedes Mal verfehlte er allerdings die notwendige Zweidrittelmehrheit. Sogar in der AfD, auf deren Parteitagen Nazi-Magazine verteilt werden, ist die Personalie Helferich vielen einfach zu heiß.
Ein „treuer Mitstreiter“ und „Spitzenkandidat“ einer rechtsextremistischen Bestrebung
In manchen Teilen seiner Partei mag Helferich anecken, auch wenn die AfD nach zehn Jahren unzweifelhaft zu weiten Teilen rechtsextrem ist. Wo er hingegen uneingeschränkt willkommen ist und gute Kontakte hat, ist die Junge Alternative (JA), die Jugendorganisation der Partei. Die Junge Alternative ist tiefgehend von Rassismus und Rechtsextremismus geprägt, was ihr schließlich Ende April die Einstufung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextremistische Bestrebung“ eingebracht hat.
Helferich, der als „Spitzenkandidat“ der JA Nordrhein-Westfalen in den Bundestag einzog, hat ausdrücklich für die JA gegen den Verfassungsschutz Partei ergriffen. Dieser würde instrumentalisiert, „weil wohl jemand neidisch auf das Umfragehoch der AfD“ sei, schreibt er in einem Tweet vom 27. April. Damit greift er die im offen rechtsextremen Parteilager übliche Lüge auf, der Verfassungsschutz sei ein Werkzeug der Regierung, um die Opposition der AfD zu unterdrücken.
Der damalige JA-Chef nannte Helferich im Vorfeld der letzten Bundestagswahl einen „treuen Mitstreiter“. Wie eng er mit der Parteijugend verbandelt ist, wird an seiner weiteren Agitation gegen Lamya Kaddor deutlich.
Eine rassistische Hetzkampagne, angestoßen von einem Bundestagsabgeordneten
Kurz nachdem seine Kollegin ihren Tweet zu dem Vorfall im Innenausschuss abgesetzt hatte, griff Helferich ihn mit einem eigenen Tweet auf und versah diesen mit einem Sharepic. Es enthält ein in der rechtsradikalen Szene um die JA geläufiges Motiv, mit dem darauf angespielt wird, man lebe in einer von linker Ideologie bestimmten, verrückten „Clownwelt“.
Kaddor würde demnach „mit vollem Mund die AfD anblöken“ und wegen „‘Rassismus‘ rumopfern“, nur weil Helferich sie auf „Tischmanieren“ hingewiesen habe. Den Tweet, der fast 600 Mal geteilt und über 2.700 Mal gelikt wurde, teilte der Abgeordnete kommentarlos, lediglich versehen mit dem Hashtag #joghurtgate. Und unter ebendiesem Hashtag werden seitdem unglaublich gehässige und boshafte rassistische Kommentare über Kaddor getwittert.
Die 44-Jährige wird darin ausnahmslos als ein ungehobeltes Berufsopfer dargestellt, das im bloßen Hinweis auf Tischmanieren Rassismus sieht und „schmatzend“ ungerechtfertigte Vorwürfe erhebt. Auf einem besonders widerlichen Fakefoto trieft ihr ein großer Schwall Joghurt aus dem Mund. Es wurde von einem Account aus dem Umfeld der AfD getwittert, der über 22.000 Follower hat. Auch offizielle Acoounts von Landes- und Kreisverbänden von AfD und JA nehmen an dieser rassistischen Hetzkampagne teil.
Es geht nicht um Tischmanieren – Rassismus soll unsichtbar gemacht werden
Der Begriff Abendland wird kaum noch erwähnt. Ein unbedarfter Beobachter müsste tatsächlich davon ausgehen, es ginge lediglich um Tischmanieren und das Essen mit vollem Mund. Lamya Kaddor wird auf Initiative ihres Kollegen Matthias Helferich von der AfD gezielt verspottet und verhöhnt, der tatsächlich vorhandene Rassismus zugleich negiert. Es geht ja schließlich nur um „gute Tischmanieren“. Antimuslimischer Rassismus soll unsichtbar gemacht werden.
Helferich hat sogar noch weitere verhöhnende Tweets dazu verfasst und feuert die Hetze weiter an. Er schenkt Kaddor symbolisch einen Knigge, damit sie „gutes Benehmen lerne“. Dafür brauche es auch nicht den Ältestenrat, der sich nun mit dem Vorfall im Innenausschuss des Bundestages beschäftigt. In der Nacht zum Samstag hat Helferich auch ein Spottlied über Kaddor geteilt. Dessen Urheber ist ein rechtsextremer Hetzer, der in der Szene seit Jahren als „Die Vulgäre Analyse“ bekannt ist.
Noch vor einigen Jahren wäre es ein handfester Skandal gewesen, dass ein gewählter Bundestagsabgeordneter einem unter Beobachter:innen berüchtigten rechten Hetzer Öffentlichkeit verschafft. Heute reicht dieser Umstand kaum noch für ein Schulterzucken. Dieser perfiden Diskursverschiebung müssen alle Demokrat:innen entschieden entgegentreten, um Helferich und seinesgleichen in die Schranken zu weisen.