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Ehemaliger Zeuge Jehovas erzählt nach Austritt von seinen verstörenden Erlebnissen

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Von: Nadja Goldhammer

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„Ich habe nie gedacht, dass ich die Schule abschließen werde, weil ja die Welt vorher untergeht.”

Es gibt viele Menschen auf der Welt, die sich einer Religion zugehörig fühlen. Dabei bieten die große Weltreligionen natürlich nicht die einzigen Gemeinschaften. Ein Beispiel für eine weitere Gemeinschaft sind die Zeugen Jehovas. Diese sind offiziell als christliche Gemeinschaft anerkannt. Die Menschen, die dieser Religionsgemeinschaft angehören, glauben an das bevorstehende Armageddon, also an eine göttliche Schlacht, die den Weltuntergang einleiten soll. Dabei sollen nur die Gläubigen, also die Zeugen Jehovas ins Paradies gerettet werden.

Um mehr zu erfahren, habe ich mit Alexander* gesprochen, einem Wahrnehmungspsychologen, der in die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas hineingeboren wurde. Und nicht nur das: Er war der Sohn eines höher gestellten Führers.

Hier sind zehn Fragen an Alexander, dessen Antworten extrem interessant, aber auch sehr verstörend sind:

Hinweis: Dieser Artikel thematisiert psychologischen Druck und körperliche Gewalt.

1. Könntest du dich einmal vorstellen? Wie bist du aufgewachsen, wie bist du in deiner Familie aufgewachsen?

„Mein Name ist Alexander. Ich bin Wahrnehmungspsychologe und arbeite aktuell im Labor, also in der psychologischen Forschung. Ich bin bei den Zeugen Jehovas aufgewachsen. Meine Familie war dort schon in dritter Generation. Meine Großeltern sind dort eingetreten und haben schon meine Eltern dort hineingeboren. So wie meine Eltern, mich und meine ältere Schwester.”

2. Was sind die Zeugen Jehovas beziehungsweise was sind die grundlegenden Ideologien?

„Es ist im Grunde ein christlicher Fundamentalismus, bei dem keine andere Religion anerkannt wird. Also alle anderen sind vom Teufel besessen, sehr absolutistisch das Ganze. Es gibt nur eine Wahrheit und das war‘s. Die Zeugen Jehovas haben ihre eigene Bibel-Übersetzung gemacht und legen diese als die goldenen Regeln aus. Wenn du gegen Regeln verstößt, dann hast du massive Probleme mit der Führungsriege.

Die Menschen sind kein Teil der Welt, da sie quasi schon im nächsten Leben leben. Sie warten nur auf den bevorstehenden Weltuntergang und das darauffolgende Paradies. Es gibt keinen Kontakt beziehungsweise Sex vor der Ehe. Frauen und Männer dürfen nicht mal im gleichen Zimmer sein. Nach der Hochzeit müssen die Leute dann aber zusammenbleiben, was bei meinen Eltern eine Katastrophe war. Es gab keine heidnischen Feste. Also kein Weihnachten, kein Geburtstag oder so und es wird nicht gern gesehen, dass man mit Personen von außen was zu tun hat. Es gibt trotzdem viele davon, da einige es nicht so extrem ausleben.”

Man sieht eine Frau, die betet und dabei ihren Kopf an ihre Faust lehnt.
„Es gibt nur eine Wahrheit und das war‘s.“ © Wavebreak Media Ltd./Imago

3. Kannst du die Position deines Vaters beschreiben?

„Dadurch dass relativ schnell klar war, dass meine Eltern sich nicht mögen, hat mein Vater sich sehr in die Sekte hineingesteigert. Er ist dann geistiger Führer von etwa 200 Menschen geworden. Mein Vater war beliebt und quasi der emotionale Beistand für alle. Wenn jemand Probleme hatte, ist diese Person zu ihm gegangen, was ihm natürlich viel Macht gegeben hat. Wir wurden auch ständig irgendwo eingeladen, weil er in den verschiedensten Teilen Deutschlands sogar Vorträge gehalten hatte.“

4. Wie war es bei den „Zeugen Jehovas” aufzuwachsen? War das Normalität für dich oder hast du gemerkt, dass etwas anders ist?

„Es gab keine Alternative. Wir waren Eigentum und Vorzeigeobjekt. Ich war dementsprechend ständig krank. Wir Kinder hatten ständig Angst vor unserem Vater. Er hat uns verprügelt. Was er irgendwann nicht mehr machen musste, da so eine Erfahrung sehr einprägsam ist. Mein Vater war ein Tyrann. Und meine Eltern haben sich ständig gestritten. Aber meine Mutter musste gehorchen, das Ganze ist nämlich relativ sexistisch.”

5. Welche einschneidenden Erlebnisse haben dich dazu gebracht, dass du austreten wolltest?

„Zwischen der Grundschule und dem Gymnasium bin ich quasi aufgewacht. Ich habe nie gedacht, dass ich die Schule abschließen werde, weil die Welt sowieso vorher untergeht. Ich habe jedoch immer mehr und mehr mitbekommen, dass Leute Dinge gepredigt haben, aber was anderes getan haben. Also so eine Art Doppelmoral. Aufgrund dessen begannen meine Zweifel.“

Man sieht den Messestand einer Gruppe Zeugen Jehovas.
„Ich habe nie gedacht, dass ich die Schule abschließen werde, weil die Welt sowieso vorher untergeht.“ © Jeff Greenberg/Imago

6. Hast du also nicht an der Religion gehangen?

„Meine Schwester ist zum Beispiel in der Religion total aufgegangen und schwärmte von ihrer engen Beziehung zu Jehova. Ich habe nie etwas gespürt. Diese Religion hat mir nichts gegeben.”

7. Wie bist du vorgegangen, um die Kirche zu verlassen?

„Kinder werden nicht getauft oder Derartiges. Das heißt, dass die Kinder nicht automatisch der Religion angehören. Meistens wurden Kinder jedoch getauft, als sie trotzdem noch nicht in einem Altern waren, in dem sie sich der Konsequenzen bewusst waren. Und dann, als sie älter waren, haben sie etwas ,Verbotenes‘, wie in die Disco gehen, getan und wurden dann komplett aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Ich habe mich einfach von Anfang an nicht dazu bekannt. Wenn ich es gemacht hätte, dann hätte ich vielleicht auch mehr Ansehen bekommen, aber das war nie meins.”

8. Mit wem hast du noch Kontakt? Sprichst du mit deinem Vater? 

„Ich hatte den Kontakt abgebrochen. Mein Vater hatte mir zwar weiterhin Geld geschickt, allerdings hatten wir sonst keine Berührungspunkte. Irgendwann kam er dann an, nachdem er selbst aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurde. Meine Eltern hatten sich nämlich scheiden lassen, weil ‚Hurerei‘ die einzige Sache war, mit der man aus einer Ehe herauskam. Das ging auf die Kappe meines Vaters. Beziehungsweise wollten die anderen hohen Tiere ihn sowieso loswerden, weil mein Vater zu viel über jeden wusste. Und dann haben sich alle auf die Seite meiner Mutter gestellt. Meine Mutter habe ich auch nach 15 Jahren ohne Kontakt wieder besucht, aber … sie lebt einfach immer noch in ihrer eigenen Welt.“

9. Wie hast du deine Erlebnisse verarbeitet?

„Ich hatte Kopfschmerzen, die nicht mehr weggegangen sind. Psychosomatische, chronische Kopfschmerzen seit zwölf Jahren, jeden Tag. Ich war auch mal zwölf Wochen in der Klinik und bei einer Gruppentherapie, was ziemlich schlimm war. Die Leute konnten eben nichts anfangen mit der Problematik eines Sektenopfers.“

10. Was hat dir wirklich dabei geholfen, mit deinen Erlebnissen klarzukommen? 

„Ich habe eine Verhaltenstherapie gemacht, die mir auch nicht wirklich geholfen hat. Jetzt mache ich gerade eine Schematherapie und hier bin ich zuversichtlich. Das ist mal ein anderer Ansatz.“

*Alexander heißt in Wirklichkeit anders. Um ihn zu schützen, haben wir seinen Namen geändert. Sein vollständiger Name ist der Redaktion bekannt.

Wenn du dich psychologischem Druck oder Gewalt ausgesetzt fühlst, auch zum Beispiel in Zusammenhang mit einer Religionsgemeinschaft, dann gibt es in Deutschland viele verschiedene Telefonseelsorgestellen, die zu jeder Tages- und Nachtzeit anonym Beratung am Telefon anbieten. Die bundeseinheitlichen Telefonnummern 0800-1110111 oder 0800-1110222 sind kostenlos.

Die Telefonseelsorge bietet auch Beratung im Internet an.

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