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Expertin klärt auf: Menschen mit ADHS fühlen sich durch TikTok „nicht mehr wie ein Alien“

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Von: Felicitas Breschendorf

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ADHS-Videos auf TikTok
ADHS-Videos auf TikTok können aus Aufklärung oder persönlichen Erfahrungen bestehen. © Katharina Schön/ @parttimetravelgirl/ Collage/ BuzzFeed News DE

Selbstdiagnosen mit ADHS auf TikTok werden massiv kritisiert. Dabei können sie Betroffenen das Leben retten und helfen einem Teil besonders.

Hinweis: Dieser Artikel thematisiert Suizid und psychische Krankheiten.

Mehrere Medien, zuletzt ein Essay in der Zeit, berichten von einem neuen TikTok-Trend: Menschen diagnostizieren sich selbst mit ADHS, was gefährliche Folgen haben könne. Katharina Schön hat selbst ADHS und arbeitet als psychologische Trainerin mit Betroffenen. Wenn man sich mit ihr unterhält, bekommt man schnell ein anderes Bild: Selbstdiagnosen auf TikTok, so sagt sie, können Betroffenen helfen.

Der Algorithmus von TikTok funktioniert bestens für ADHS-Gehirne

Begonnen hat laut Schön alles in der Pandemie. Viele Menschen saßen zu Hause und entdeckten die App TikTok für sich: Für die schnellen Videos braucht man nur eine kurze Aufmerksamkeitsspanne. „Für Menschen, die ein ADHS Gehirn haben, ist das wie eine Goldgrube für Dopamin“, sagt Schön gegenüber BuzzFeed News DE. Denn diese können sich auf lange Inhalte nur schwer konzentrieren (solange sie einen nicht brennend interessieren) und haben nachgewiesen einen Dopaminmangel.

Es ist bekannt, wie individuell der TikTok-Algorithmus sich an unsere Interessen anpasst: Es ist also kein Wunder, dass diese TikTok-Videos zu ADHS besonders den Menschen angezeigt werden, die selbst davon betroffen sind – auch wenn sie selbst noch nichts davon wissen. „Auf TikTok fühlen sie sich nicht mehr wie ein Alien, sondern zu Hause.“

ADHS

ADHS bedeutet Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung. Charakteristisch sind nach dem Bundesministerium für Gesundheit folgende drei Hauptsymptome:

Hyperaktivität (übersteigerter Bewegungsdrang)

Unaufmerksamkeit (gestörte Konzentrationsfähigkeit)

Impulsivität (unüberlegtes Handeln)

Betroffene von ADHS lernen mit den TikTok-Videos, sich selbst zu akzeptieren

In den TikTok-Videos erzählen Betroffene auf vielseitige Weise von ihren Symptomen und Erfahrungen. Die TikTokerin @parttimetravelgirl_ zählt zum Beispiel auf, woran sie gemerkt habe, dass sie ADHS hat: „Verliere ständig Sachen und weiß nie, wo was liegt“ oder „Höre bei Gesprächen oft zu, ohne ein Wort verstanden zu haben“.

Zu ADHS gehört nämlich weit mehr als nur das typische Nichtstillsitzen können, was oft klischeehaft damit verbunden wird. Bei jede:r ADHS-Betroffenen sind die Symptome natürlich individuell und unterschiedlich stark ausgeprägt.

„Die TikTok-Videos beschreiben eine Lebensrealität, bei der man dachte, sein ganzes Leben lang allein zu sein. Das kann Betroffenen dabei helfen, sich selbst zu akzeptieren“, sagt Schön gegenüber BuzzFeed News DE.

Typisch für Menschen mit ADHS sei zum Beispiel, dass sie entweder zu laut oder zu leise sprechen, weil sie ihre Stimme nicht regulieren können. „Seit dem Kindergartenalter wird dir immer wieder gesagt ‚sei doch mal nicht so laut‘ oder ‚warum schreist du so‘“, sagt Schön. Dann stoßen diese Menschen über TikTok auf andere Betroffene, die sich genauso verhalten. Ihnen wird klar: „Das ist kein schlechtes Persönlichkeitsmerkmal. Ich bin nicht defizitär als Mensch, sondern einfach bloß etwas anders.“

Hier erzählen 5 Menschen, wie es sich anfühlt, eine dissoziative Störung zu haben.

Selbstdiagnose ist nicht gleich Selbstdiagnose

„Wenn man Schwierigkeiten hat, sich zu konzentrieren, heißt das noch lange nicht, dass dahinter eine grundlegende Erkrankung steckt. Zum Beispiel kann Schlafmangel zu Konzentrationsproblemen führen“, sagt die Ärztin Christin Bella im Gespräch mit BuzzFeed News DE. Diese Skepsis gegenüber Selbstdiagnosen kann Schön verstehen. Sich nach einmal googlen einzureden, dass man Krebs hat, ergebe zum Beispiel keinen Sinn. Wie von Kritiker:innen häufig falsch dargestellt, bleibe es bei ADHS jedoch nicht bei dem einen TikTok-Video, durch das man vorschnell zu einer Diagnose kommt.

„Die Menschen haben ihren kompletten Feed auf TikTok voll. Das heißt, sie sehen über Stunden am Tag, über Wochen und Monate Hunderte von Videos von anderen Betroffenen.“ Unter den Videos verlinken zudem viele Creator:innen wissenschaftliche Artikel und Studien.

Die TikTok-Videos beschreiben eine Lebensrealität, bei der man dachte, sein ganzes Leben lang allein zu sein. Das kann Betroffenen dabei helfen, sich selbst zu akzeptieren.

Katharina Schön, ADHS-Trainerin und TikTokerin

TikTok-Videos stoßen auf positive Rückmeldung von ADHS-Betroffenen

Schön klärt auf TikTok auch selbst über ADHS auf. Viele Menschen schreiben ihr, dass sie sich durch ihre Videos besser verstehen oder „sich jetzt nicht mehr so sehr hassen“. „Am schönsten ist es, wenn mir jemand schreibt, du hast mich vor dem Schlimmsten bewahrt.“ Analysen zufolge gehen 31,4 Prozent der Todesfälle bei ADHS-Patient:innen auf Suizid zurück, wie die Pharmazeutische Zeitung berichtet.

„Im Fall von ADHS insbesondere bei jungen Menschen könnte das Pochen auf einer Diagnose eher kontraproduktiv sein, da diese Erkrankungen in Verdacht steht, überdiagnostiziert zu sein“, warnt Ärztin Christin Bella. Schön kann aus eigener Erfahrung sagen, dass Menschen sich nicht leichtsinnig mit ADHS selbst diagnostizieren. „Niemand ist gerne krank“, sagt sie.

Dabei sind Menschen mit ADHS in ihren Augen nicht „krank“: Schön ist davon überzeugt, dass es sich bei ADHS nicht um eine Störung, sondern um eine Neurodivergenz handelt. Also ein bestimmtes Muster angelegter Funktionsweisen im Gehirn. Das bedeutet, dass die Betroffenen nicht krank sind, sondern dass ihr Gehirn einfach anders funktioniert als bei „normalen“, also neurotypischen Menschen.

Frauen mit ADHS können von den TikTok-Videos besonders profitieren

Im Gegensatz zu Jungs wird ADHS bei Mädchen seltener oder später erkannt, wie Studien zeigen. „Weil sie das einfach besser kompensieren können“, sagt Schön. Außerdem sieht ADHS bei Frauen oft anders aus als bei Männern: Der unaufmerksame, „träumerische“ Teil sei stärker ausgeprägt als der hyperaktive. „Und in der Gesellschaft denkt man eben: Mädchen sind halt verträumt“, sagt Schön.

Weil kein:e Ärzt:in sie diagnostiziert, stoßen Frauen also irgendwann selbst auf ihre Symptome. Und wo könnten junge Frauen 2023 einfacher an Informationen kommen als über Instagram oder TikTok? Die TikTokerin Beth erzählt auf ihrem Account @livingwith.adhd zum Beispiel, dass sie selbst erst über TikTok merkte, dass sie ADHS habe. Später erhielt sie eine medizinische Diagnose.

Auf eine Diagnose mit ADHS müssen Menschen außerhalb von TikTok lange warten

„Menschen müssten sich nicht selbstdiagnostizieren, wenn es angemessene Hilfeleistungen und ein richtiges Bewusstsein für die Störung geben würde“, sagt Beth in einem TikTok-Video. Tatsächlich müssen Betroffene laut Schön bis zu einem Jahr warten, bis sie einen Diagnose-Termin bekommen (geschweige denn einen Therapieplatz). Das sei auch deshalb problematisch, weil der Zugang zu ADHS-Medikamenten wie Ritalin erst dann möglich ist. Diese Überlastung des Gesundheitssystems kritisierte bei BuzzFeed News DE auch eine Notfallsanitäterin.

Und selbst wenn ein:e Betroffene:r einen Termin bekommt, kann es sein, dass die Ärzt:in das ADHS nicht erkennt, sagt Schön gegenüber BuzzFeed News DE. Das könne für die Betroffenen, die sich monatelang mit dem Thema ADHS auseinandersetzten, retraumatisierend sein. Stattdessen könne die Ärzt:in zudem eine Fehldiagnose ausstellen, wie zum Beispiel Borderline oder eine Angststörung.

Forschende glauben übrigens, dass es in der Zukunft möglich sein könnte, ADHS an den Augen zu erkennen.

TikTok schafft Aufklärung und gibt Tipps, auf die Betroffene lange warten müssen

Creator:innen auf TikTok geben auch Tipps, um den Alltag mit ADHS zu bewältigen. Zum Beispiel könnte der TikTok-Trend „Brown Noise“ manchen Menschen bei ADHS helfen. Nach ihrer Selbstdiagnose auf TikTok können die Betroffenen sich laut Schön natürlich trotzdem mit einer offiziellen Diagnose absichern und eine Therapie beginnen. Aber auch davor könne es nur helfen, mithilfe der Videos Strategien zu entwickeln, um mit ADHS besser durch das Leben zu kommen.

Wenn du dich in den Videos wiedererkennst, solltest du dir laut Schön unbedingt noch Fachliteratur zu ADHS durchlesen und Online-Tests durchführen. Wenn du dir deinen Verdacht von einer Ärzt:in bestätigen lassen willst, gibt es hier eine Liste an Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen, an die du dich wenden kannst.

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