Eine Regelung, die auf den ersten Blick durchaus Sinn ergibt. Nur: Angela Merkel sprach in diesem Moment, sichtlich aufgewühlt, mehr als Parteichefin der CDU denn als Kanzlerin. Sie wollte vor der offiziellen Pressekonferenz „aus innenpolitischen Gründen eine Vorbemerkung“ machen und sprach von Grundüberzeugungen „für die CDU und auch für mich“. Ihre Forderung, das Ergebnis der thüringischen Ministerpräsidentenwahl „rückgängig“ zu machen, erhob sie als damalige Vorsitzende der CDU. Das war für die meisten „mündigen und verständigen Bürger“, an deren „Empfängerhorizont“ sich das Gericht orientiert haben will, eigentlich ersichtlich. Die Mitwirkung der Partei am parlamentarischen Schmierentheater der AfD stand damals im Zentrum der allgemeinen Empörung über den „Tabubruch“ von Erfurt.
All das half Merkel nicht, die Mehrheit der Verfassungsrichter:innen urteilte streng – und meiner Ansicht nach lebensfremd. Die frühere Kanzlerin habe es damals versäumt, „mit hinreichender Klarheit darauf hinzuweisen, dass sie sich (...) nicht in ihrer Eigenschaft als Bundeskanzlerin, sondern als Parteipolitikerin oder Privatperson äußern werde“, wie das Bundesverfassungsgericht in seiner Pressemitteilung erklärt. Merkel hätte also ausdrücklich sagen müssen, dass sie diese Sätze nicht als Regierungschefin ausspricht.
Natürlich könnte man eine solche formaljuristische Formel jederzeit voranschicken. Die Frage ist nur, was für einen effektiven Unterschied es in den Augen der Bevölkerung macht, wenn die Bundeskanzlerin ihre Worte als die einer Parteichefin verstanden wissen will. Ihre Autorität bleibt ja dieselbe. Eine rein formalistische Trennung zwischen Regierungschefin und Parteipolitikerin würde daran nichts ändern.
Der Gipfel der Lebensfremdheit: Hätte Merkel angemerkt, dass es sich bei der AfD um eine verfassungsfeindliche Partei handelt, von der es sich abzugrenzen gelte, wäre ihre harsche Kritik von Karlsruhe akzeptiert worden. Denn dann hätte sie zum „Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ gehandelt, was ja ziemlich sicher ihr Anliegen war. Da das aber nicht erfolgte, stand die „negative Qualifizierung“ der AfD für sich allein und es sei unklar gewesen, warum Merkel eigentlich von einem „schlechten Tag für die Demokratie“ gesprochen hat.
Ernsthaft? Ausgerechnet wenn es um das Bundesland geht, in dem die AfD vom Verfassungsschutz seit Jahren als „gesichert extremistisch“ geführt wird, soll es also notwendig sein, eigens auf den einschlägigen Charakter dieser Partei hinzuweisen? Ausgerechnet der Landesverband, dem der berüchtigte Demagoge Björn Höcke als Landessprecher vorsteht, ist nicht offenkundig genug rechts? Der Mann darf sogar gerichtsfest als Faschist bezeichnet werden... Besonders viel Zutrauen in die Mündigkeit der Bürger:innen hat das höchste deutsche Gericht also offenbar nicht.
Es stimmt daher zuversichtlich, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts alles andere als einstimmig war. Drei von acht Richter:innen stimmten dem Urteil nicht zu. Die Richterin Astrid Wallrabenstein verfasste ein sogenanntes „Sondervotum“, mit dem sie für eine grundsätzliche Aufgabe des „Neutralitätsgebots“ plädierte. Ihr Argument: Die Lebensfremdheit einer Trennung zwischen Regierungs- und Parteipolitiker, wie der Rechtsexperte Felix W. Zimmermann auf Legal Tribute Online ausführt.
Diese Fraktion der Realisten konnte sich aber nicht durchsetzen, sehr zur Freude der AfD. Die kann nun einen weiteren Triumph vor Gericht gegen die Regierung verbuchen und badet wieder einmal in Häme und Schadenfreude. Der thüringische Landesverband – ja, eben der Verband, der vom Faschisten Höcke angeführt wird – spricht laut Welt von „demokratischen Defiziten in Deutschland“, die dieses Urteil sichtbar gemacht hätte. Und Bundesparteichef Tino Chrupalla spricht nach der Urteilsverkündung gegenüber der ARD von einem „guten Tag für die Demokratie“. Das Bundesverfassungsgericht hat der AfD einen großen Gefallen getan. Welch bittere Ironie.