Affenpocken in Deutschland: Droht eine Stigmatisierung von Homosexuellen?

Inzwischen sind die ersten Fälle von Affenpocken auch in Deutschland aufgetaucht. Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat bereits Quarantänemaßnahmen angekündigt.
Zuerst war es nur eine kleine Nachricht unter vielen, doch in weniger als einer Woche wurde es vor allem innerhalb der LGBTQIA+-Community zu dem bestimmenden Thema: die neue Affenpocken-Virusausbreitung in Europa sowie in den USA und Kanada. Besonders rätselhaft ist dabei aktuell ein Fakt: Die Virusinfektion breitet sich bisher vornehmlich in der Gay-Community der einzelnen Länder aus, wenn auch nicht ausschließlich. Trotzdem lässt diese Tatsache nicht nur ältere Homosexuelle hochschrecken, die Parallelen zu der Verbreitung von HIV in den 1980er Jahren sehen, sondern sorgt gerade auch digital und medial bereits jetzt mitunter erneut für eine vorschnelle Stigmatisierung von schwulen und bisexuellen Menschen.
Holger Wicht von der Deutschen Aidshilfe stellt dabei gegenüber Buzzfeed News Deutschland klar: „Prinzipiell müssen wir alle bei diesem Thema besonders sensibel sein, auch und gerade vor dem Hintergrund der Geschichte von HIV, wo genau Narrative von Schuld und sogenannten Risikogruppen schon einmal desaströse Folgen hatten.“ Bis in die 1990er Jahre hinein wurde HIV als „Schwulenseuche“ bezeichnet, die nur homosexuelle Männer befallen könne. Nebst der Tatsache, dass diese Behauptung schlicht inhaltlich falsch war und so zu einer Verbreitung der Infektionskrankheit auch unter heterosexuellen Menschen beitrug, stempelte sie eine ganze Generation schwuler und bisexueller Menschen als „verdorben“ und „sexsüchtig“ ab. Gerade viele ältere Homosexuelle erinnern sich mit Blick auf die Affenpocken jetzt abermals an jene dunklen Tage.
Affenpocken in Deutschland: „Nicht verwerflich, darauf hinzuweisen, dass die Infektion derzeit überwiegend schwule und bisexuelle Männer (MSM) betrifft“
Ist es jetzt angesichts der bekannten Fehler der HIV-Geschichte also falsch, wie beispielsweise das Robert-Koch-Institut darauf hinzuweisen, dass MSM (Männer, die Sex mit Männern haben) mit verdächtigen Symptomen wie Hautauschlag, Fieber oder Abgeschlagenheit einen Arzt zur Kontrolle aufsuchen sollten? Wicht dazu: „Es ist nicht verwerflich, darauf hinzuweisen, dass die Infektion derzeit offenbar überwiegend schwule und bisexuelle Männer (MSM) betrifft. Es ist richtig, darauf aufmerksam zu machen, damit diese Gruppe sich informieren und schützen kann. Die Infektion kann aber natürlich prinzipiell bei allen Menschen auftreten, und sie kann schon durch engen Körperkontakt übertragen werden – inwieweit Sex eine Rolle spielt, werden wir noch sehen.“
In den vergangenen Jahren war es bereits mehrfach zu kleineren Ausbrüchen von Affenpocken in Europa gekommen. Der erste aktuelle Fall in Europa wurde vergangene Woche in London verzeichnet. Von dort breitete sich die Virus-Infektion nach und nach auf andere Länder aus, auch auf Deutschland. Das bayerische Gesundheitsministerium bestätigte, dass als erster Fall in Deutschland ein 26-jähriger Mann aus Brasilien festgestellt wurde, der von Portugal über Spanien nach München eingereist war. Bisher verlaufen alle bekannten Fälle zumeist sehr milde, auch wenn vereinzelt schwere Fälle auftreten können.
Die aktuelle Herangehensweise vonseiten des Gesundheitsministeriums wie aber auch von Fachkliniken wie der Berliner Charité oder Fachverbänden wie der Deutschen Aidshilfe ist: Wachsam sein, aber keine Panik. Wicht gegenüber Buzzfeed News Deutschland: „Wir müssen jetzt einschreiten, wenn erneut Stigmatisierung und Schuldzuweisungen gegenüber schwulen Männern und Menschen aus Afrika auftreten und wir müssen verstehen, dass wir Infektionskrankheiten nicht in den Griff bekommen, indem wir Sündenböcke beschuldigen, sondern immer nur durch Informationen, wie alle Menschen sich schützen können.“
Affenpocken in Deutschland: Nicht nur homosexuelle Männer betroffen
Dabei ist es für Wicht durchaus verständlich, warum in der Community teilweise jetzt die Angst herumgeht: „Wir haben hier vordergründig tatsächlich so etwas wie eine Déjà-vu-Situation: Ein neues Virus aus Afrika, man weiß noch nicht genau, was los ist und es betrifft vor allem schwule Männer. Da kommen bei manchen Menschen natürlich sehr schlimme Erinnerungen hoch – das kann teilweise hochemotional sein und auch starke Abwehrreaktionen hervorrufen.“
Egal, wie irrational die Ängste bisweilen seien mögen, müsse man sie trotzdem ernst nehmen und dabei stets klarstellen, dass es keinen Zusammenhang der beiden Virus-Infektionen gibt. „Wir müssen dafür sorgen, dass alle Zugang zu Informationen haben. Dann kann jeder Mensch selbst entscheiden, was er daraus für sich schließen möchte. Aber klar ist: Wer das Risiko verringern möchte, kann dies durch die Verringerung von engem Körperkontakt tun“, so Wicht.
Bei genauem Blick auf die aktuellen Fälle zeigt sich zudem, dass schon jetzt nicht nur MSM davon betroffen sind, in Großbritannien beispielsweise verbreitete sich das Virus innerhalb einer Familie. Die Vermutung liegt nahe, so Wicht, dass bereits Umarmungen eine Übertragung möglich machen können – auch deswegen läuft die Stigmatisierung von homo- und bisexuellen Menschen ins Leere. Wicht hofft daher, dass uns über zwei Jahre COVID-Pandemie geleert haben, etwas vorsichtiger mit vorschnellen Diagnosen zu sein. (Autor: JHM Schmucker)