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Affenpocken-Infizierter klagt über medizinische Versorgung – „unwürdig, die Krankheit so ertragen zu müssen“

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Von: Robert Wagner

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Ein junger Mann, der resigniert den Kopf in die Hände legt, dazu die Diagnose: Affenpocken.
Ein hilfloses Gesundheitssystem, fehlende Medikamente. Das sind die Erfahrungen, die der Berliner Martin mit seiner Affenpocken-Infektion machen musste (Symbolfoto). © Christian Ohde/Imago/AntonioGuillemx/imago

Das deutsche Gesundheitswesen ist immer noch schlecht für die Affenpocken gerüstet. Das ist zumindest die erschütternde Erfahrung eines Betroffenen aus Berlin.

Viel ist aktuell von den Affenpocken die Rede. Die mit den klassischen Pocken verwandte Viruserkrankung tritt seit Anfang Mai immer häufiger außerhalb von West- und Zentralafrika auf, wo sie seit Jahrzehnten heimisch ist. Was Expert:innen beunruhigt: Anders als früher beschränkt sich diese Krankheit nicht auf Menschen, die zuvor in die entsprechenden Risikogebiete gereist sind. Das Virus verbreitet sich unabhängig von Reisenden, Europa ist dabei der Schwerpunkt seines Aufkommens. Etwa 900 von rund 1.400 Fällen weltweit entfallen auf die EU, so die EU-Gesundheitskommissarin. In Deutschland zählt das Robert Koch-Institut (RKI) mittlerweile 263 Fälle von Affenpocken (Stand: 15. Juni).

Hinter dieser anonymen Zahl verbergen sich konkrete Leidensgeschichten, die bisher kaum wahrgenommen werden. Die meisten Fälle dieses neuen Ausbruchs verlaufen zwar im Vergleich zu den Pocken mild, Einweisungen ins Krankenhaus gab es erst wenige, berichtet die Berliner Morgenpost. Angenehm ist eine Infektion mit den Affenpocken dennoch nicht. Betroffene Homosexuelle sehen sich nicht nur mit Stigmatisierung durch Affenpocken konfrontiert, sondern leiden auch körperlich und fühlen sich von den Behörden alleingelassen. Die Berliner Morgenpost hat mit einem Betroffenen aus Berlin gesprochen, der Affenpocken hatte und vom deutschen Gesundheitssystem enttäuscht wurde.

Affenpocken beginnen bei Martin mit Pickeln am Gesäß

Martin ist 30 und gehört als homosexueller Mann mit wechselnden Sexualpartnern zur Hauptrisikogruppe für eine Infektion mit den Affenpocken. Nahezu alle bisher aufgetretenen Fälle betreffen Männer, die Sex mit Männern haben (MSM). Anonyme Sextreffen unter MSM in Spanien, Portugal und Großbritannien waren auch Hotspots in der aktuellen Welle, wie die Berliner Morgenpost in einem anderen Artikel ausführt. Diese Länder seien zusammen mit Deutschland die Spitzenreiter, was die Infektionsraten angeht, zeigt eine Karte der Berliner Morgenpost.

Auch der Amerikaner Martin, der seit 2021 in Berlin lebt, hatte in den Tagen vor dem Ausbruch seiner Affenpocken-Infektion Sex mit vier Männern. An einem Donnerstag, einige Tage nach einem Date mit einem 45-Jährigen Ende Mai, bemerkte er Hautrötungen an seinem Gesäß, die er zunächst ignorierte. „Die sahen aus wie kleine Pickel, aber ich dachte, das kommt von der Schokolade, die ich am Vortag gegessen habe“, sagt er der Berliner Morgenpost im Telefoninterview.

Zwei Tage später, am 28. Mai und insgesamt sechs Tage nach dem verhängnisvollen Treffen, hat Martin Fieber, geschwollene Lymphdrüsen und Schmerzen im ganzen Körper. „Dann schaute ich die Pickel auf meinem Po an – und sie waren geschwollen.“ Hautausschläge, die sich zu dicken Pusteln entwickeln und schließlich als Schorf verkrusten, sind das typische Symptom der Affenpocken. Für den jungen Mann beginnt nun eine wochenlange Odyssee durch das Berliner Gesundheitswesen.

Sieben Stunden mit Affenpocken in der Notaufnahme der Charité

Martin steuert noch am selben Abend das „Vivantes Klinikum“ im Friedrichshain an, wo man ihm nicht weiterhelfen kann. Sie schicken ihn in die dermatologische Abteilung der Charité. In der dortigen Notaufnahme wartet er zunächst eine Stunde im öffentlichen Warteraum, bevor er isoliert wird. Die Affenpocken waren zu diesem Zeitpunkt bereits Thema intensiver medialer Berichterstattung. Immer wieder war damals schon von einer „neuen Pandemie“ die Rede. Eine sofortige Isolierung hielt man in Martins Fall dennoch offenbar für unnötig. „Im Nachhinein frage ich mich, warum es so lange gedauert hat“, wundert er sich gegenüber der Berliner Morgenpost.

Schließlich wird ihm Blut abgenommen und es werden Abstriche von den Pusteln an seinem Po gemacht, bevor er auf eigenen Wunsch in den frühen Morgenstunden des 29. Mai die Notaufnahme nach sieben Stunden verlässt. Er möchte lieber zu Hause auf das Ergebnis der Laboruntersuchungen warten. Zu Hause angekommen, nimmt er Ibuprofen und Paracetamol gegen die Schmerzen. „Mein ganzer Körper schmerzte zwar, aber die Pocken taten noch nicht weh“, zitiert ihn die Berliner Morgenpost.

Das Gesundheitsamt interessiert sich nicht für Kontaktpersonen

Am darauffolgenden Montag erfährt Martin telefonisch: Er hat die Affenpocken. Die Pusteln am Po schmerzen bei Berührung bereits leicht, er kann vor Fieber und Schüttelfrost nicht schlafen und schwitzt extrem stark. Er hat sich isoliert und wird von Freunden mit Essen versorgt, das sie ihm vor die Tür stellen. Ihm steht eine mehrwöchige Quarantäne bevor.

Erst zwei Tage später, am 1. Juni, kontaktiert ihn das Gesundheitsamt und will von ihm wissen, wo er sich angesteckt haben könnte. Martin hatte da bereits seine Sexualkontakte der vergangenen Woche über seine Infektion informiert und weiß, dass der 45-Jährige, mit dem er Ende Mai Sex hatte, ebenfalls erkrankt ist. Er beantwortet die Frage entsprechend.

Mit seiner Antwort gibt sich die Mitarbeiterin vom Gesundheitsamt zufrieden. Sie stellt keine Fragen zu weiteren Kontakten, um etwa Infektionsketten zurückverfolgen zu können – was für die Eindämmung der Affenpocken enorm wichtig wäre. Martin informiert die Frau am Telefon von sich aus über die drei anderen Sexualkontakte, die er im fraglichen Zeitraum hatte. „Ich bin wirklich ein wenig schockiert, dass sie nicht all meine Kontakte selbständig abfragte“, sagt er der Berliner Morgenpost.

Vom Medikament „Tecovirimat“ gegen Affenpocken gibt es in Deutschland angeblich nur zehn Dosen

Die nächsten Tage werden für Martin zur körperlichen Tortur. An seinem Anus wachsen nun ebenfalls Pusteln, die höllisch schmerzen. Jeder Toilettengang wird zur Qual. „Wenn ich auf die Toilette gehe, fühlt sich das wie Messerstiche an.“ Jede Bewegung verursacht bald heftige Schmerzen. Martin bleibt einfach nur im Bett liegen. Der Rettungsdienst, den er schließlich anruft, vertröstet ihn: Man könne ihn erst in zwei Stunden abholen. Er fährt schließlich selbst ins Charité Virchow Klinikum – auf dem E-Roller, weil er nicht sitzen kann.

Vor der Klinik muss er zunächst auf dem Parkplatz warten, da es keinen Raum für ihn gibt. Schließlich kommt ein Arzt in Schutzkleidung aus dem Gebäude und versorgt ihn notdürftig mit Schmerzmitteln und Cremes. Martin hatte von einem Medikament gehört, das als Gegenmittel für die klassischen Pocken entwickelt und erst 2022 auch in der EU zugelassen wurde: Tecovirimat. Es soll auch gegen Affenpocken wirken. Er fragt den Arzt, ob er es bekommen könnte, berichtet die Berliner Morgenpost.

Die Antwort stimmt nachdenklich: Es gebe dieses Arzneimittel nicht in ausreichender Menge. Der Arzt spricht von zehn Dosen Tecovirimat in ganz Deutschland. Und die seien Patient:innen mit lebensbedrohlichen Krankheitsverläufen oder Vorerkrankungen wie HIV vorbehalten. Das Robert Koch-Institut bestätigt Anfang Juni diese Einschätzung gegenüber der Berliner Morgenpost: „Die Größenordnung dürfte stimmen.“ BuzzFeed News Deutschland hat das RKI ebenfalls um eine Stellungnahme gebeten und eine fast gleichlautende Antwort erhalten: Das RKI könne keine weiterführenden Informationen über die exakte Anzahl der Tecovirimat-Einheiten in den Krankenhäusern geben, „da die Medikamente in der Verwaltung der jeweiligen Krankenhausapotheke sind“. Die Größenordnung dürfte aber so stimmen, heißt es ebenfalls von einer Sprecherin Mitte Juni.

Affenpocken: Mit Analblutungen vom Krankenhaus abgewimmelt

Das einzige, in der EU zugelassene Medikament gegen Affenpocken soll hierzulande also praktisch nicht vorhanden sein? „Für mich ist es schwer zu glauben, dass Deutschland nur zehn Dosen Tecovirimat hat“, sagt Martin am 7. Juni der Berliner Morgenpost am Telefon. Es ist der 16. Tag nach seiner Ansteckung. Mittlerweile hat Martin nicht nur am Po, am Anus und im Mund Pockenpusteln, sondern auch auf seiner Schulter. Dennoch geht es ihm schon etwas besser.

Zwei Tage zuvor blutete Martin aus dem Anus und konnte nicht einmal mehr E-Scooter fahren. Das Krankenhaus wimmelt ihn am Telefon ab: Normalerweise würde man ihn bei Analblutungen einweisen, nicht jedoch bei Affenpocken. Als mit Affenpocken infizierter Mensch muss man mit seinen Beschwerden offenbar allein klarkommen, sofern die Situation nicht lebensbedrohlich wird.

„Es ist sehr unwürdig, die Krankheit so ertragen zu müssen. Es ist eine Infektion, die mich äußerlich für mein Leben zeichnen kann“, sagt Martin im Interview mit der Berliner Morgenpost. Er betont, dass jedem Chaos und eine schlechte medizinische Versorgung drohe, der sich mit diesem Virus anstecke. Seine Erfahrungen stellen dem deutschen Gesundheitssystem kein gutes Zeugnis aus.

Ein Lichtblick: Der Impfstoff gegen Affenpocken wird ausgeliefert

Die Vermeidung einer Infektion ist der beste Weg, dem medizinischen Chaos und der Mangelversorgung, die Martin im Interview mit der Berliner Morgenpost schildert, zu entgehen. Am 15. Juni werden die ersten 40.000 Dosen des gegen Affenpocken wirksamen Impfstoffs Imvanex ausgeliefert. Die Berliner Zeitung berichtete einen Tag zuvor, dass Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) dies am Dienstagnachmittag in einer Runde mit Ärzten bekannt gegeben hatte. Unklar sei noch, wie der Impfstoff auf die einzelnen Städte und Regionen Deutschlands aufgeteilt werde.

Die Ständige Impfkommission (STIKO) hatte die Impfung gegen Affenpocken vergangene Woche jedoch nur für Kontaktpersonen und Angehörige von Risikogruppen empfohlen.

*In einer früheren Version hatten wir geschrieben, dass die Antwort des Robert Koch-Instituts noch aussteht. Inzwischen liegt sie BuzzFeed News Deutschland vor und wir haben sie ergänzt.

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