Der Vorbote dieses Trends, der beliebte Podcast „You‘re Wrong About“, widmete gleich mehrere Folgen Frauen, die einst Zielscheiben von Spott waren und stattdessen etwas Sympathie verdient hätten: Anna Nicole Smith, Tonya Harding, Lorena Bobbitt und Monica Lewinsky. Einige dieser Frauen, wie etwa Lewinsky, erhielten durch Film und Fernsehen eine Art Wiedergutmachung.
Diese Art der kulturellen Aufarbeitung hat viel Gutes bewirkt. Nachdem der Fall Britney Spears wieder ins öffentliche Interesse gerückt war, stieg die öffentliche Sympathie für sie enorm an, und sie erhielt schließlich das Recht, aus ihrer mehr als zehnjährigen Vormundschaft entlassen zu werden. Auch Lewinsky konnte wieder an die Öffentlichkeit treten, um ihre eigene Geschichte zu erzählen und die Kontrolle über ihr Narrativ zurückzugewinnen – zu ihren eigenen Bedingungen. Und die Lektionen, die der Podcast „You‘re Wrong About“ und andere revisionistische Erzählungen der Öffentlichkeit beibringen wollen, müssen gehört werden: Dass viele dieser Frauen ungerecht behandelt wurden und dass sich unsere Einstellung gegenüber der beiläufigen und grausamen Frauenfeindlichkeit, die sie ertragen mussten, dringend ändern muss.
Wie auch diese Frauen, ist Heard nicht das, was viele Leute als sympathisches Opfer bezeichnen würden. So gab sie beispielsweise zu, ihr Versprechen, einen Teil ihrer Scheidungsvereinbarung für wohltätige Zwecke zu spenden, nicht eingehalten zu haben, „weil Johnny mich im März 2019 auf 50 Millionen Dollar verklagt hat“, so Heard vor Gericht. Zudem existieren Audioaufnahmen, in denen sie behauptet, sie habe Depp während ihrer Ehe geschlagen. Heard argumentiert, dass dies zur Selbstverteidigung geschehen sei, und die meisten Expert:innen warnen davor, von „gegenseitiger Misshandlung“ zu sprechen, um Partnergewalt zu beschreiben, bei der eine Partei zurückschlägt. Depps und Heards Eheberaterin hatte sich über ihre missbräuchliche Beziehung geäußert.
Es wurde viel über einen bizarren Vorfall berichtet, den ein ehemaliges Mitglied von Depps Sicherheitsteam vor Gericht schilderte. Demnach habe Heard angeblich in Depps Bett defäkiert und die Hunde dafür verantwortlich gemacht (Heard bestritt die Anschuldigungen erneut vor Gericht). Eine Psychologin attestierte Amber Heard eine Borderline-Störung. Diese Woche wehrte sich Heard vor Gericht gegen Behauptungen, sie habe Depp mit James Franco betrogen, der ihrer Meinung nach nur ein Freund sei.
Wie Refinery29 berichtete, wurde Heard online vorgeworfen, sich nicht wie ein „echtes Opfer“ zu verhalten.
Dies schade nicht nur Heards öffentlichem Ruf, so ein Experte zu dem Bericht, sondern auch allen Opfern häuslicher Gewalt, die nicht in das Narrativ passen, wie sie gemäß der öffentlichen Meinung auszusehen hätten. „All das beunruhigt mich, weil es den Mythos des ‚perfekten‘ Opfers aufrechterhält und von Heard verlangt, dass sie sich in viele – oft widersprüchliche – Erwartungen der Öffentlichkeit einfügt, wie sie sich verhalten sollte, damit man ihr glaubt“, sagt Lucia Osborne-Crowley, eine Journalistin und Autorin, die zwei Bücher über Traumata geschrieben hat. „Aber diese Erwartungen sollten keinen Einfluss darauf haben, ob ihre Anschuldigungen vor Gericht als wahr erweisen – das sollten Beweise tun.“
Genau wie Boulevardjournalist:innen und Fotograf:innen, die den Schmerz von Spears nutzten, um ihre eigene Karriere voranzutreiben, nutzen auch Content Creator:innen die täglichen Depp versus Heard-Prozess-Updates, um viral zu gehen und möglichst viele Follower:innen anzuziehen. Auf Tiktok kursieren unzählige Parodien über Amber Heard. Neben den spöttischen Tiktok-Audio von Heards Gerichtsaussage posten Influencer:innen Kommentare und Analysen, Umfragen, wem ihre Follower:innen am meisten glauben, und noch vieles mehr.
Medienunternehmen haben lange Zeit von ihrer umfassenden Berichterstattung über diese verleumdeten Frauen profitiert, indem sie Zeitungen und Zeitschriften verkauften und ihre Verfehlungen im Fernsehen bis ins kleinste Detail ausschlachteten. Erfolgreich ist nun auch die Darstellung dieser Frauen in Oscar-nominierten Filmen und Dokumentationen, in denen ihr Trauma und die Misshandlung durch die Öffentlichkeit aufgearbeitet werden – als Wiedergutmachung. Für diese Projekte wird täglich grünes Licht gegeben, Hollywood profitiert nun mal von der Nostalgie der 90er und 80er Jahre. Nur wenn man sich mit der Vergangenheit auseinandersetzt, kann man diesen Frauen verzeihen, aber nur, wenn man sie vorher ordentlich durch den Dreck gezogen hat.
Vielleicht wird in ein paar Jahren ein Streaming-Dienst einen Dokumentarfilm darüber herausbringen, wie unfair Heard behandelt wurde. Tiktok-Videos können als erschreckendes Archiv-Filmmaterial genutzt werden, das zwischen Interviews mit Expert:innen über die Gefahr von Social Media eingeblendet wird. Eine aufstrebende Schauspielerin wird eine Oscar-Nominierung für ihre eindringliche Darstellung von Heards Aussage im Zeugenstand erhalten. Und wir alle werden mit Abscheu auf die Reaktion bezüglich Heard zurückblicken und sagen: „Das wäre heute nie passiert.“
Heards Prozess hat nichts Unterhaltsames und wird nicht zu unserer Belustigung inszeniert – und doch passiert online genau das. Die Grundsätze der Fairness, die wir verinnerlicht haben sollten, nachdem wir darüber nachgedacht haben, wie Frauen in den 90er und 00er Jahren behandelt wurden, haben nicht unbedingt jeden erreicht, wenn es um Heards gegenwärtige Geschichte geht. Und während die Kulturrevisionsindustrie versucht, uns Lektionen zu erteilen, setzt nicht jeder sie in die Praxis um. Wie Sarah Marshall, die Moderatorin des Podcasts „You‘re Wrong About“, twitterte, geht es bei dem von ihr produzierten Content darum, dass wir diese Frauen später nicht noch einmal unter die Lupe nehmen müssen, sondern stattdessen lernen und sie jetzt besser zu behandeln. Wir könnten unser Urteil zurückhalten und uns die Fakten ansehen. Wir könnten die Anschuldigungen, die in dem Prozess erhoben werden, als ernsthaft betrachten und nicht einfach als ein Spektakel, das uns unterhalten oder zu einem Meme werden soll.
Aber viele von uns werden das nicht tun, weil solche Dinge nun mal nicht viral gehen.
Dieser Post von Stephanie McNeal erschien am 18. Mai 2022 auf buzzfeednews.com. Aus dem Englischen übersetzt von Aranza Maier.