Bevor es allerdings überhaupt zu dieser Selbsterkenntnis kommt, erleben viele Asexuelle einen langen Leidensweg. In einem ersten Schritt folgt das Coming-Out, vor sich selbst ebenso wie dann vor anderen Menschen. Im zweiten Schritt müssen sie immer wieder gegen Klischees kämpfen, die auch viele Schwule und Lesben nur zu gut kennen: „Es ist ja nur eine Phase, oder? Du hast den Richtigen einfach noch nicht gefunden!“
Auch aufgrund vieler Klischees blickt die queere Community besorgt auf die Pläne des Gesundheitsministers zur elektronischen Patientenakte.
Finja (28) aus Schleswig-Holstein fragte sich jahrelang verzweifelt, warum ihr Sexleben mit ihrem damaligen Partner überhaupt nicht gut lief – dann fand sie Informationen über Asexualität online: „Ich hatte sofort das Gefühl, dass das ich bin! Es stellte sich eine erste große Erleichterung ein, dass ich normal, aber anders bin als die meisten anderen.“ Ähnlich erging es Carmen (40) aus dem Saarland, die eher zufällig bei einer Recherche mit 33 Jahren auf das Thema stieß – solange war sie der Meinung, irgendwie einfach „kaputt“ zu sein.
Andere wiederum sind sich schon früh sicher, dass sie asexuell sind, wie Jen (23) aus Hannover: „Ich habe das tatsächlich schon in der früheren Jugend, so mit 12, festgestellt. Man beobachtet in der Schule, wie die Mitschüler anfangen, über irgendwelche Jungs oder Promis zu reden, die sie scharf finden oder wie auf Klassenfahrten irgendwelche sexuellen Aktivitäten stattfinden, der Status der Jungfräulichkeit nimmt an Wichtigkeit zu. Ich habe es eigentlich von Anfang an direkt als Feststellung gesehen und nicht in Zweifel gestellt.“
Der nächste Schritt ist dann das Outing vor Freund:innen und der Familie. „Mein Freundeskreis hat positiv reagiert, es kamen einige Nachfragen, aber die meisten wussten, was Asexualität ist und es ist weder ein Problem, noch wird es thematisiert. Meine Familie hat es noch nicht ganz begriffen. Einige reduzieren Asexualität auf die Libido, also darauf, dass nicht alle Menschen Lust auf Sex haben, obwohl ich mehrfach erklärt habe, dass dieser Punkt zwar eine Rolle spielt, aber nicht die alleinige Definition ist“, so Finja weiter.
Jen hingegen hat es bis heute kaum jemandem berichtet – falls doch, erlebte auch sie Unverständnis: „Meine Mutter kann es gar nicht nachvollziehen, wüsste nicht, wie man so leben kann. Meinem ersten Freund hatte ich das schon vor Anfang erklärt. Es wurde zwar hingenommen, im Nachhinein erzählte er aber, dass er das eigentlich doch nicht geglaubt hat.“ Und Carmen wurde mit sehr unterschiedlichen Reaktionen konfrontiert, von Unglauben über Bedauern bis hin zu seltsamen Fragen wie: „Kannst du denn dann überhaupt für irgendetwas Begeisterung empfinden?“ Für Carmen endete das Outing trotzdem positiv: „Der Großteil nimmt es als Teil von mir wahr und nimmt mich, wie ich bin. Unter diesen Leuten blühe ich nicht ohne Grund auf.“
Auch nicht heterosexuelle Schüler:innen verheimlichen ihre Identität. Die Herausforderungen wegen Queer-Hass an deutschen Schulen sind riesig.
Doch warum tun sich viele bis heute so schwer zu akzeptieren, dass ein Mensch kein sexuelles Verlangen gegenüber einer anderen Person hat? „Asexualität wird gern mit einer Entscheidung verwechselt, also Enthaltsamkeit oder das Zölibat. Auch glauben viele Menschen, dass Asexualität das völlige Fehlen einer Libido voraussetzt. Schade ist es auch, wenn Leute denken, dass wir irgendwem irgendetwas verbieten möchten, dass wir generell ‚gegen Sex‘ sind. Asexualität ist aber keine Haltung oder Einstellung, sondern eine Orientierung“, sagt Irina Brüning vom Verein AktivistA BuzzFeed News Deutschland.
Warum viele Menschen ein erfülltes Leben immer auch mit Sex in Verbindung bringen, kann auch an der eigenen Prägung liegen. Im Gegensatz zur Homosexualität blieb Asexualität lange Zeit unsichtbar. In Europa war es oft nur die „eheliche Pflicht“ der Frau, Sex zu haben – nach Lust oder Verlangen wurde gar nicht erst gefragt. Erst durch die sexuelle Befreiung und den queeren Aktivismus entstand die Freiheit, vielfältigen Orientierungen Raum geben zu dürfen, darunter endlich auch der Asexualität.
Sowohl Finja wie auch Jen und Carmen fühlen sich durchaus der queeren Community zugehörig, sehen aber auch, dass einige nach wie vor mit Unverständnis auf asexuelle Menschen reagieren: „Mir fällt auf, dass es selbst in dieser Community Leute gibt, die Asexualität nicht wahrnehmen, da bei den meisten eine starke Sexualität vertreten ist“, so Jen weiter. Und Finja ergänzt: „Es ist wichtig, dass wir zusammenhalten und uns nicht gegenseitig das Leben schwer machen. Trotzdem fühle ich mich in der Community wohl, sie gibt mir ein Zugehörigkeitsgefühl und viele Gespräche innerhalb der Community haben mir geholfen, mich selbst zu finden.“ Ähnlich sieht das auch Brüning: „Wir sitzen alle im gleichen Boot!“ Und Carmen will ganz direkt andere Menschen unterstützen: „Ich versuche, für andere Queers ein sicherer Hafen zu sein und meinen Teil dazu beizutragen, damit die Welt für Queers ein klein wenig besser wird.“
Ein Vorurteil hält sich trotzdem bis heute hartnäckig: „Sexuelles Verlangen wird als Ausdruck von Lebenskraft und Lebensfreude gesehen. Wer sich von anderen nicht sexuell angezogen fühlt, muss irgendwie krank sein oder zwangsläufig ein trauriges Leben führen“, so Brüning. Genau deswegen rät sie gerade auch jungen, möglicherweise asexuellen Menschen, sich mit anderen online oder ganz direkt auszutauschen. „Wenn man sich nicht allein fühlen muss, wird vieles leichter, und mit einer Community im Rücken lassen sich negative Reaktionen im eigenen Umfeld besser verkraften!“
Um der Asexualität den „Exotenstatus“ zu nehmen, sei auch Bildung wichtig, findet Finja: „Asexualität gehört meiner Meinung nach ebenso wie alle anderen Orientierungen in den Aufklärungsunterricht, in Kompetenzen von medizinischen Fachkräften und allgemein in Gespräche über die LGBTQIA+ Community. Wenn ich schon als Teenager gewusst hätte, dass es Asexualität gibt, wären mir eine Menge Leid, Selbstzweifel und Minderwertigkeitsgefühle erspart geblieben.“
Schwer genug haben es asexuelle Menschen auch trotzdem weiterhin in einer durch und durch übersexualisierten Welt: „Ich habe keine Probleme mit Sex. Aber die Priorität ist heute einfach zu hoch gesetzt. Man kommt einfach nicht drum herum“, so Jen. Carmen ärgert sich in bestimmten Situationen ebenso darüber: „Wenn das Aussehen, das Verhalten oder die Aussagen von mir oder anderen sexualisiert werden, reagiere ich sehr schnell ungehalten, weil mir dann etwas übergestülpt wird, was ich nicht bin. Vor allem, wenn es um Kinder geht bei Sprüchen wie ‚Die verdreht später mal den Männern den Kopf‘ oder ‚Der ist ja jetzt schon ein richtiger Casanova‘.“
Ich bin der Meinung, dass wir viel mehr über Sex sprechen sollten, aber eben nicht nur über Männer, die immer geil sind, und Frauen mit dicken Brüsten, sondern auch über Sexarbeiter:innen, Schwangerschaftsabbrüche, sichere Sexpraktiken, Sexspielzeug für alle, Konsens, sexualisierte Gewalt und alles, was in das LGBTQIA+ Spektrum fällt
Am Ende ist es vielleicht ganz einfach, so Jen: „Ich wünsche mir generell einfach mehr Toleranz. Es würde mir schon die Einstellung reichen, dass Menschen unterschiedlich sind und Menschen leben können, wie sie möchten!“
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