Auszeit – aber bitte richtig, Herr Palmer!

Boris Palmer hat mit dem Eklat um das N-Wort und den Judenstern den Bogen überspannt – und nun reagiert. Doch das kann nicht alles gewesen sein.
Es war wohl mal wieder Zeit für einen gestandenen Boris-Palmer-Eklat. Auf einer Konferenz der Frankfurter Goethe-Uni sprach der Tübinger Oberbürgermeister zum Thema „Migration steuern, Pluralität gestalten“ – und verteidigte die Verwendung des N-Wortes. Dieses zutiefst rassistische Wort in den Mund zu nehmen, mache einen ja nicht gleich zum Nazi. Es käme stattdessen auf den Kontext an, weshalb er darauf „beharre“, das N-Wort weiterhin zu benutzen, wo es seiner Meinung nach legitim sei, etwa in alten Kinderbüchern.
In seiner gewohnt provokativen Art sprach er besagtes Wort innerhalb einer halben Minute gleich fünfmal aus. Meine Kollegin Katja Thorwarth spricht in ihrem Meinungsstück im Journal Frankfurt von einem „rassistischen Kleinkindmodus“ Boris Palmers. Tatsächlich erinnert der Tübinger OB an einen renitenten Fünfjährigen, wenn er sich gegen eine „woke Cancel Culture“ zu wehren müssen glaubt, wie er es bereits im Sommer 2022 anlässlich der geforderten Umbenennung der Tübinger Universität ausdrückte. Lieber verwende ich rassistische Sprache, als auch nur den Anflug des Verdachts aufkommen zu lassen, ich könnte irgendwie „woke“ sein, ratterte es womöglich in seinem Kopf.
Das N-Wort ist ein Akt rassistischer Gewalt
Während die Forderung, die Namensgeber der Tübinger Uni aus der Erinnerung zu tilgen, überzogen war und Palmer damals gute Argumente ins Feld führen konnte, sehen die Verhältnisse diesmal gänzlich anders aus. In dem N-Wort verdichten sich Jahrhunderte kolonialer Unterdrückung und Entmenschlichung Schwarzer Menschen. Es gibt kaum ein anderes Wort, das einen dermaßen brutalen rassistischen Bedeutungsgehalt hat, der übrigens völlig unabhängig vom Kontext besteht.
Zahlreiche Schwarze Autor:innen haben in den vergangenen Jahren ausführlich erklärt, warum sie dieses früher so alltägliche Wort als verbale Gewalt empfinden. Mit Erfolg. Aus politischen Debatten ist das N-Wort glücklicherweise weitgehend verschwunden, die Medienlandschaft ist sensibler geworden. Alte Schullektüre, die damit gespickt ist, sorgt heute für Kontroversen, wie der Fall um den Roman „Tauben im Gras“ von 1951 zeigt, den eine Schwarze Lehrerin nicht im Unterricht durchnehmen will.
Wer das N-Wort weiterhin benutzt, muss sich mindestens den Vorwurf gefallen lassen, alte rassistische Denkmuster zu reproduzieren, die jahrhundertelang der Entrechtung und Marginalisierung Schwarzer Menschen gedient haben.
Es geht darum, rassistisches Denken zu überwinden!
Von einem langjährigen Oberbürgermeister, der bis vor Kurzem auch noch einer progressiven Partei angehörte, darf man erwarten, ein Mindestmaß an Empathie für marginalisierte Minderheiten aufbringen zu können.
Es geht darum, rassistisches Denken, das unsere Gesellschaft durchdringt, zu reflektieren und auf diese Weise zu überwinden. Eine Aufgabe, bei der gerade die politische Funktionselite beispielhaft vorangehen muss. Dass Boris Palmer für rassistisches Denken anfällig ist, hat er bereits mehrfach bewiesen. Seine verstörenden Aussagen von 2018 über einen dunkelhäutigen Radfahrer und vermeintlichen Asylbewerber, an den er offenbar andere Maßstäbe anlegt, als an „hier Aufgewachsene“, machen das deutlich.
Wo bleibt die Entschuldigung für den Gebrauch rassistischer Sprache?
Dass sich Boris Palmer bereits unmittelbar vor seinem Auftritt auf der Migrationskonferenz in einer lautstarken Auseinandersetzung Kritik an der Verwendung des N-Wortes verbat und die darauffolgenden „Nazis raus“-Rufe mit dem Judenstern der Nazis verglich („Das ist nichts anderes als ein Judenstern“), erweitert das ganze Elend noch um den deftigen Vorwurf, den Holocaust zu relativieren. Ein Vorwurf, der nicht weniger schwer wiegt, nur weil Palmers Großvater selbst Jude war und vor den Nazis fliehen musste, wie er nun auf Facebook betont.
Für den unsäglichen Judenstern-Vergleich hat Palmer in einer persönlichen Erklärung mittlerweile um Entschuldigung gebeten. Er ist außerdem aus seiner Partei (Grüne) ausgetreten und macht zunächst eine „Auszeit“. Wofür er aber nicht um Entschuldigung gebeten hat, ist die Verwendung rassistischer Sprache, die er in Frankfurt so vehement und streitlustig verteidigt hatte. Stattdessen stellt er sich als Opfer „grob ungerechter Angriffe“ dar.
Natürlich sind Sie kein Nazi, Herr Palmer – aber ignorant und empathielos
Natürlich wird man nicht gleich zum Nazi, wenn man das N-Wort in den Mund nimmt. Wenn man aber als eigentlich gebildeter weißer Politiker im Jahr 2023 immer noch darauf besteht, einen rassistischen Begriff zu verwenden, outet man sich zumindest als empathieloser Ignorant, der seiner Vorbildrolle nicht gerecht wird. Es ist daher zu begrüßen, dass Palmer sich in seiner Auszeit „professionelle Hilfe“ suchen will, um seinen „Anteil an diesen zunehmend zerstörerischen Verstrickungen aufzuarbeiten.“
Ob seine Auszeit auch einen Rücktritt von seinem Amt als Tübinger Oberbürgermeister beinhalten wird, ist noch ungewiss. Dem ARD-Journalisten Martin Kaul konnte eine Sprecherin des Tübinger Rathauses diese Frage am 2. Mai noch nicht beantworten, wie er auf Twitter öffentlich machte. Es bleibt nur zu hoffen, dass Boris Palmer es mit seiner Auszeit ernst meint und sich auch vollständig von der politischen Bühne zurückzieht.