TikTok-Trend „Brown Noise“ soll bei ADHS helfen – stimmt das?

Beim „Brown-Noise“-Trend auf TikTok reagieren Menschen mit und ohne ADHS auf tiefes, surrendes Geräusch und sind geschockt. Ist das alles nur Theater?
Ein bisschen fühlt es sich an wie ein tiefes Meeresrauschen – das Geräusch „Brown Noise“. Unter dem gleichnamigen TikTok-Sound teilten in den vergangenen Wochen einige Menschen Videos, wie sie das erste Mal auf den beruhigenden Sound reagieren. Die allgemeine Stimmung – Schock und pure Begeisterung. Eine Userin schreibt in ihrem Video: „Was? Was? Ist das echt? Wo sind meine Gedanken hin?“ (siehe TikTok unten). Sie ist nicht die einzige, die auf das tiefe, surrende Geräusch so überrascht reagiert. Doch hat „Brown Noise“ wirklich eine so gewaltige Wirkung auf unser Gehirn und hilft es ADHS Patient:innen dabei, ihre Gedanken zu ordnen? BuzzFeed News Deutschland fragt bei einem Psychologen nach, der selbst ADHS hat.
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„Brown Noise“-Trend auf TikTok: Auch andere Geräusche helfen bei ADHS
„Wenn du ADHS hast, hör dir dieses Geräusch 55 Sekunden an und schau dir an, was es mit deinem Gehirn macht“, schreibt dieser TikToker, der aus Deutschland kommt und selbst ADHS hat (siehe TikTok unten). Er postet auf TikTok regelmäßig Videos über die Krankheit und gibt Tipps für das Leben mit ADHS. Er erklärt, dass „Brown Noise“ im Vergleich mit „White Noise“ mehr Bass hat. Es sei bewiesen, dass der Sound dabei helfe, zu entspannen, rasende Gedanken auszuschalten und einzuschlafen. Doch welche Studien belegen das?
Der Psychologe Johannes Streif kann den TikTok-Trend „Brown Noise“ nicht so richtig verstehen. Er ist Vorstandsmitglied im Selbsthilfeverband ADHS Deutschland und war einer der ersten, die in Deutschland als Erwachsene mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) diagnostiziert wurden. „Ich würde das eher als Hype betrachten“, sagt Streif.
Ja, viele ADHS-Patienten nutzten Geräusche, um andere Reize auszublenden. In der Regel sei das aber Musik, die nicht ablenke, zum Beispiel Klassik. Der Sound „Brown Noise“ könne solch eine Funktion natürlich auch einnehmen. „Es gibt sicher welche, die Brown Noise zum Fokussieren nutzen, aber es nicht bekannt, dass das Geräusch im Gehirn besondere Reaktionen auslöst“, erklärt der Psychologe BuzzFeed News Deutschland.
Der „Brown Noise“-Sound soll Menschen auf TikTok helfen, sich zu fokussieren
Das Geräusch „Brown Noise“ (eigentlich „Brownian Noise“) gehe zurück auf den schottischen Biologen und Botaniker Robert Brown, der im 19. Jahrhundert eine zufällige mikroskopische Bewegung bei Pollen-Körnern erkannte – die Brownsche Bewegung. In der sind, wie Live Science berichtete, sowohl die Richtung als auch die Größe aller Schritte zufällig. Genauso ist es beim „Braunem Rauschen“: Hier addieren sich zufällige Geräusche des weißen Rauschens (also „White Noises“) auf und es entsteht eine Art Rauschen, dessen Stärke mit dem Quadrat der Frequenz abnimmt.
„Das braune Rauschen nimmt in seiner Stärke noch schneller ab als das weiße Rauschen, je höher die Frequenz ist. Das betont die tieferen, für Menschen meist angenehmeren, beruhigenden Frequenzen“, sagt Streif im Interview mit BuzzFeed News Deutschland. Er will gar nicht abstreiten, dass es positive Auswirkungen auf Menschen mit ADHS und auch ohne haben kann. „Bei diesem TikTok-Trend wirkt es aber ein bisschen wie Theater“, sagt er. „Ich denke, dass viele in diesen Videos zumindest übertreiben.“ Deswegen könne es auch nicht als Diagnosemittel genutzt werden, ganz nach dem Motto „Ich finde das beruhigend = ich habe ADHS“. Ganz im Gegenteil zur Netzhaut der Augen, an der Forschende ADHS in Zukunft erkennen wollen.
Vor allem, weil die Menschen in den TikToks gar nicht auf eine spezifische Tätigkeit fokussiert seien, sondern eher auf das braune Rauschen selbst, ergebe es keinen Sinn, dass sie das Geräusch überhaupt brauchen würden. „Bei ADHS-Betroffenen lenkt eben jeder Reiz von dem ab, was man gerade tut. Hier helfen dann solche Geräusche wie klassische Musik oder auch ein Hintergrundrauschen, den Fokus nicht zu verlieren. Aber wenn man sowieso nur in einem stillen Raum sitzt, halte ich das eher für absurd.“
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ADHS betrifft etwa fünf Prozent der Bevölkerung
Beeinflussen solche TikTok-Trends auch die Anzahl an ADHS-Patient:innen? Man merke schon, dass auch die Zahl an ADHS-Erkrankten steigen würde, erzählt Johannes Streif. Dazu hätten aber auch Smartphones und Tablets beigetragen. Eine definitive Veränderung werde man aber erst in einigen Jahren erkennen, wenn die Kinder, die mit ihren Handys „ausgeschaltet“ werden, so nennt es ein Kinderarzt, älter sind.
Mehr als fünf Prozent der Bevölkerung betreffe diese Krankheit nicht – allein aus evolutionären Gründen. „Viele Störungsbilder, auch ADHS, liegen bei etwa vier bis fünf Prozent der Gesamtbevölkerung. Das war früher wichtig, damit das Überleben der Gruppe gesichert war“, erklärt Streif. In einer modernen Gesellschaft, in der Menschen mit Krankheiten eher vom Rest getragen werden, kann er sich aber auch vorstellen, dass der Prozentsatz noch auf sechs bis sieben Prozent ansteigen könnte.
Auf TikTok wird ADHS zum Hype – „in der Mitte der Gesellschaft angekommen“
Wir stellen ihm die Frage, ob er das Gefühl hat, dass ADHS an sich auf TikTok zu einem Hype wird. Er bejaht. „Als Selbsthilfeverband finden wir das natürlich erst einmal schön: ADHS ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen“, sagt der Psychologe. Früher in den 60er und 70er-Jahren wurde ADHS erstmals populär. Damals habe es auch viele Gegenstimmen gegeben: Lehrer:innen hätten sich gegen Medikamente ausgesprochen, erzählt Streif. „Heute spüren auch wir im Verband die Neurodiversität-Debatte, bei der viele sagen, ADHS zu haben ist einfach eine andere Art zu sein.“
Dass die Leute auf Social Media zusammenkommen und einander helfen, Strategien für ein Leben mit ADHS zu finden, sei also eine gute Sache, sagt Streif. Trotzdem „sollte man das auch nicht pathologisieren“.„Dass ADHS auch auf Social Media so gehypt wird, ist schon ein schräges Phänomen“, sagt Streif. „Ich glaube, eine vermeintliche Diagnose ist für viele eine Erleichterung. Da setzt bei manchen Menschen auch der Placebo-Effekt ein – selbst wenn sie auf das falsche Pferd setzen.“
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