„Viel zu tun“ – Documenta 15 sorgt bei Antisemitismus-Stelle in Hessen für eine ganze Menge Arbeit

Die Antisemitismus-Stelle RIAS Hessen gibt es erst seit März 2022. Doch Arbeit gibt es schon jetzt genug – dafür sorgt unter anderem die Documenta 15.
Bevor die Documenta 15 ihre Türen für Besucher:innen aus der ganzen Welt öffnete, sprachen selbst Antisemitismus-Expert:innen noch davon, dass Antisemitismus-Vorwürfe „pure Dämonisierung“ sind, so wie Loewy, der Direktor des jüdischen Museums Hohenems. Doch spätestens seit ein Kunstwerk des indonesischen Künstlerkollektivs „Taring Padi“ öffentlich wurde, das Schweinsgesichter und Davidsterne zeigte, sprechen sich auch Hanno Loewy und der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel, gegen den Antisemitismus bei Documenta 15 aus. Die Veranstaltung ist einer der berühmtesten Ausstellungen für Gegenwartskunst weltweit. Umso trauriger sei es, „dass die Documenta-Macher:innen diese Antisemitismus-Symbole nicht sehen wollten“, sagte Loewy zu BuzzFeed News Deutschland Mitte Juni.
Doch das Werk von „Taring Padi“, das mittlerweile abgebaut wurde, scheint nicht das einzige Kunstwerk zu sein, das antisemitische Motive beinhaltet. Am Mittwoch, 27. Juli, wurden neue Antisemitismus-Vorwürfe laut. Ein:e Besucher:in meldete der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Hessen (RIAS Hessen) ein weiteres antisemitisches Kunstwerk im Museum Fridericianum.
Documenta 15: Antisemitismus auch in Broschüre mit dem Titel „Presence des Femmes“ gefunden
Laut Deutscher Presse-Agentur (dpa) handelt es sich um Darstellungen in einer Broschüre mit dem Titel „Presence des Femmes“, die 1988 in Algier erschienen ist. Darin enthalten sind Zeichnungen des syrischen Künstlers Burhan Karkoutly, die unter anderem Soldaten zeigen, die als entmenschlichte Roboter mit Davidstern dargestellt wurden. Sie greifen auf den Zeichnungen Kinder an, was, so RIAS zur Jüdischen Allgemeinen, das Bild des „Kindermörders Israel“ reproduziere.
Diese Bilder seien auch im Kontext alter antisemitischer Stereotype zu sehen, erklärt die Informationsstelle: Das Motiv des Kinder-mordenden Juden reiche bis ins Mittelalter zurück – man spreche von der „Ritualmord-Legende“. Diese Symbolik mit Bezug auf Israel zu verwenden sei klar antisemitisch, weil sie das Bild von „den Juden“ auf den jüdischen Staat projiziere, der sich quasi zum Staatsziel gemacht habe, planmäßig nichtjüdische, palästinensische Kinder zu töten.
Veranstalter:innen der Documenta 15 weisen Antisemitismus-Vorwürfe zurück
Die Documenta 15 wies die Vorwürfe bisher zurück. Es gebe zwar eine Bezugnahme auf den israelisch-palästinensischen Konflikt, aber keine Bebilderung von Juden „als solchen“, heißt es in einer Stellungnahme. Das Werk sei als strafrechtlich nicht relevant eingestuft worden und deswegen wieder in die Ausstellung aufgenommen worden. Die Veranstalter:innen weigerten sich laut dpa bisher, eine umfassende Prüfung durchzuführen, die weitere antisemitische Kunst zum Vorschein bringen könnte. Für Susanne Urban von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Hessen (RIAS Hessen) unverständlich.
„Bei der Documenta 15 wird meiner Meinung nach nicht verstanden, dass es nicht um Zensur geht, sondern um Antisemitismus und dessen Wirkung auf Menschen. Antisemitismus beruht auf jahrhundertealten Bildern, Metaphern und Stereotypen, die immer wieder modernisiert und um neue Facetten ergänzt werden. Insbesondere Israel bezogener Antisemitismus wird jedoch viel zu oft verharmlost und relativiert“, sagt sie gegenüber BuzzFeed News Deutschland. Auch der Gedenktag vom Stauffenberg-Attentat löste vor kurzem die Debatte aus, ob relativiert werde, dass Stauffenberg ein Antisemit war.
Documenta 15: Antisemitismus-Stelle RIAS Hessen hat „derzeit viel zu tun“
„Wir haben derzeit viel zu tun wegen der Documenta 15“, so Urban. Die Antisemitismus-Stelle RIAS Hessen gebe es zwar erst seit März 2022, umso mehr falle also auf, wie viele Meldungen bei der Stelle eingingen. „Dass wir schon nach wenigen Monaten die Documenta 15 abdecken müssen, ist schon eine Art Feuertaufe“, sagt Urban im Gespräch. Genaue Daten gebe es erst mit dem nächsten Jahresbericht, aber sie habe das Gefühl, es werde erst einmal nicht weniger werden. „Aber es ist natürlich nicht nur die Documenta, die uns beschäftigt. Hessen ist auch keine Insel der Seligen, möchte ich mal so sagen.“
Antisemitische Vorfälle könnten sehr unterschiedlich sein: von Karikaturen, Aufklebern oder Schmierereien bis hin zur Androhung physischer Gewalt oder gar körperlichen Angriffen sei alles dabei. Ob es ungewöhnlich sei, dass ein Antisemitismus-Skandal wie das um die Documenta 15 für mehr Trubel bei RIAS sorge? Nicht wirklich, so die promovierte Historikerin. „Wenn man sich Antisemitismus-Wellen im Allgemeinen anschaut, dann schlagen sich die natürlich auch bei uns in den Meldestellen wieder.“ Allgemein haben antisemitische Vorfälle in den vergangenen Jahren bundesweit zugenommen.
Warum? „Weil die Grenzen des Sag- und Zeigbaren sich verschoben haben. Es wird weniger Rücksicht genommen, was andere verletzten könnte. Vielleicht hat das auch mit dem Verschwinden von Zeitzeugen zu tun. Die Entwicklung sieht man ja nicht nur in Deutschland, sondern auch in Großbritannien oder Frankreich“, erklärt Urban gegenüber BuzzFeed News Deutschland. Gerade Zeitzeug:innen weisen auf Antisemitismus hin, so wie Lucia Heilmann, Überlebende des NS-Regimes, die im Interview sagt, man habe „nichts, gar nichts gelernt“.
„Ich hoffe, dass die Menschen durch die Debatte begreifen, was Israel bezogener Antisemitismus ist“
Urban würde sich zwar wünschen, dass die gestiegenen Meldezahlen bedeuten, die Sensibilität in der Bevölkerung nehme zu, ist aber eher realistisch. Sie habe bei ihrem Besuch der Documenta 15 zwar wahrgenommen, dass Besuchende andere zweifelhafte Werke wie „Guernica Gaza“ diskutieren und das Werk kritisch sahen – viele hätten aber noch nicht verstanden, dass Antisemitismus nicht mit der Shoa [Anm. der Red.: Hebräisches Wort für den nationalsozialistischen Völkermord an den Juden Europas, also den Holocaust, hier erzählen Holocaust-Überlebende aus London ihre Geschichte] aufhöre.
Sie habe jedoch schon die Hoffnung, dass die Menschen lernfähig sind und aus Debatten wie dieser etwas mitnehmen. „Ich hoffe, dass die Menschen durch die Debatte begreifen, was Israel bezogener Antisemitismus ist. Wenn jemand sagt, ‚Benjamin Netanjahu hat mir nicht gefallen wegen seines Führungsstils, dann ist das kein Antisemitismus. Aber wenn ein roboterähnlicher israelischer Soldat abgebildet ist, mit einem Davidstern auf einem Helm und Kinder erschießt, ist es das eben.“