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Erste Gedenkstunde für queere Opfer der Nazi-Zeit im Bundestag – „beendet schmerzhafte Ignoranz“

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Von: Michael Schmucker

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Sven Lehmann
Sven Lehmann (Bündnis 90/Die Grünen) Queer-Beauftragter der Bundesregierung. © dpa/Bernd von Jutrczenka

Am Holocaust-Gedenktag wird an queere NS-Opfer erinnert. Eine längst überfällige Anerkennung massiven Leids, findet der Queer-Beauftragte Sven Lehmann.

Erstmals gedenkt der Deutsche Bundestag am heutigen Freitag den Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans* und intergeschlechtlichen sowie queeren Personen, die während des Nationalsozialismus verfolgt und ermordet worden sind. Jahrelang hatten Aktivist:innen dafür gekämpft und scheiterten stets an der Blockadepolitik des ehemaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble (CDU).

Im letzten Jahr bestätigte dann die Präsidentin des Deutschen Bundestages, Bärbel Bas, dass es 2023 den allerersten Gedenktag für die queeren Opfer der Nazi-Zeit geben wird.  

Queere Gedenkstunde im Bundestag nach Jahrzehnte langer Gleichgültigkeit

Für Henny Engels aus dem Bundesvorstand des Lesben- und Schwulenverbandes Deutschland ist dieses öffentliche Gedenken ein sehr wichtiges Zeichen mit Signalwirkung: „Die Bundesrepublik übernimmt, besonders vor dem Hintergrund der deutschen Verbrechen in der NS-Zeit, Verantwortung und setzt sich dafür ein, dass solche Gräueltaten gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans*, intergeschlechtliche und queere Menschen (LSBTIQ*) nie wieder vorkommen. Dies ist umso wichtiger als wir in zahlreichen Ländern gerade einen Rechtsruck erleben.“

Auch für den Queer-Beauftragten der Bundesregierung, Sven Lehmann, ist ein solches Gedenken schon lange überfällig, wie er gegenüber BuzzFeed News von Ippen.Media bekräftigt: „Die Gedenkstunde im Bundestag beendet eine schmerzhafte Ignoranz von erlittenem Leid und holt die queeren Opfer in das kollektive Gedächtnis. Jahrzehntelang wurde der grausamen Verfolgung und den furchtbaren Erlebnissen von LSBTIQ* während der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft mit vollkommener Gleichgültigkeit begegnet, oftmals sogar mit ausdrücklicher Billigung. Sie galten nicht als ‚würdige‘ Opfer, noch nicht einmal als Opfer.“ Ihre Geschichte sei dabei viel zu lange in der Forschung, der Aufarbeitung und der Erinnerung missachtet worden, sodass die Gedenkstunde laut Lehmann eine längst überfällige Anerkennung massiven Unrechts ist, das weit über 1945 hinausging.

Kampf der queeren Menschen reicht bis in die Gegenwart

Für viele betroffenen queeren Opfer endete die Leidenszeit in der Tat auch nach Kriegsende nicht, immer wieder kam es durch Gesetze wie beispielsweise den berüchtigten Paragraphen 175 (Verbot von sexuellen Handlungen zwischen Männern) zu gesellschaftlichen Stigmatisierungen, rechtlichen Benachteiligungen und auch Verurteilungen.

Vieles hat sich in den vergangenen Jahrzehnten schrittweise verbessert, ein oftmals nicht leichter Kampf von mutigen queeren Menschen, der in Teilen auch in Deutschland bis in die Gegenwart reicht.

Die Verbrechen der NS-Herrschaft erinnern uns immer wieder daran, wozu eine Gesellschaft fähig ist, die sich nicht permanent gegen Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt stemmt. Die Verfolgungsgeschichte von LSBTIQ* in Deutschland führt uns zudem schmerzhaft vor Augen, dass auch Demokratien nicht davor gefeit sind, schwere Menschenrechtsverletzungen zu begehen.

Sven Lehmann

„Menschenfeindliche Ideologien bilden dafür den Nährboden, denn sie legitimieren Ungleichwertigkeit und Hierarchien. Letztlich läuft ein Bestreben nach homogenen Gesellschaften immer auf Gewalt und Unterdrückung hinaus. Die Geschichte und die Erinnerung daran mahnen uns daher, sich gegen LSBTIQ+-Feindlichkeit zu stellen und für die Akzeptanz von Vielfalt einzustehen“, so Lehmann weiter.

Schutz der „sexuellen Identität“ soll ins Grundgesetz

Ein Herzensprojekt von ihm ist deswegen auch, das deutsche Grundgesetz im Artikel 3 um den Schutz der „sexuellen Identität“ zu ergänzen, damit solche Verbrechen auch bei unterschiedlichen Regierungskonstellationen in Deutschland künftig nie mehr möglich sind – um das umzusetzen, bedarf es allerdings der Zustimmung der Union in Bundesrat und Bundestag.

Auch der LSVD hält dies für einen wichtigen Schritt, der noch in dieser Legislaturperiode erfolgen sollte, so Engels gegenüber BuzzFeed News: „Das wurde im Koalitionsvertrag versprochen und im Aktionsplan ‚Queer leben´ bekräftigt. Wenn im Grundgesetz endlich die Rechte von LSBTIQ* verankert sind, dann sind weitere gesetzliche Regelungen wie zum Beispiel Verbesserungen im Abstammungsrecht, im Familienrecht oder bei der Selbstbestimmung von trans* Personen sehr viel einfacher zu realisieren.“

Zudem wäre es künftig damit auch viel leichter möglich, das Thema sexuelle Vielfalt deutlich selbstverständlicher in den Schulunterricht einzubringen. Ein besonders wichtiger Aspekt, bedenkt man, wie in immer mehr Ländern weltweit es aktuell zu rückwärtsgewandten Entwicklungen kommt, die sich allesamt gegen die LGBTQIA+-Community richten: „Sogenannte ‚Propagandagesetze‘ verhindern aktiv die Aufklärung über Vielfalt der geschlechtlichen Identität und der sexuellen Orientierung. Und in den USA wird die ‚Ehe für alle‘ angegriffen“, so Engels weiter.

„Sehr bedauerlich, dass der Bundestag so lange mit offiziellen Gedenkstunde gewartet hat“

Wie wichtig die Gedenkstunde für die ganze queere Community ist, zeigt allein auch die Tatsache, dass viele Errungenschaften für LGBTQIA+-Menschen erst in den letzten Jahren umgesetzt worden sind – die gleichgeschlechtliche Ehe beispielsweise gibt es gerade erst einmal seit gut fünf Jahren.

Auch eine offizielle Erinnerung an die lesbischen und bisexuellen Opfer des Nationalsozialismus in der Gedenkstätte Ravensbrück war so auch erst im letzten Jahr möglich. Ein bisschen Wehmut kommt bei Engels allerdings auf, weil die Bundesregierung so lange gewartet hat, bis erstmals jetzt eine Gedenkstunde überhaupt stattfinden darf: „Es ist sehr bedauerlich, dass der Bundestag so lange mit einer offiziellen Gedenkstunde gewartet hat. Denn nun gibt es keine überlebende Person, die aus erster Hand von der Verfolgung von queeren Personen im Nationalsozialismus berichten kann.“

Anstelle dessen wird heute die Holocaust-Überlebende Rozette Kats sprechen, die sich Zeit ihres Lebens für sexuelle Minderheiten eingesetzt hat. Außerdem lesen die homosexuellen Schauspieler:innen Maren Kroymann und Jannik Schümann Texte über zwei Opfer vor, den schwulen Karl Gorath (1912-2003)  sowie Mary Pünjer, die 1940 als „Lesbierin“ verhaftet und schlussendlich im KZ Ravensbrück zwei Jahre später ermordet worden war. Musikalisch begleitet werden sie von der Diseuse und Sängerin Georgette Dee.

Diskussionen im Vorfeld der queeren Gedenkstunde

Wie wichtig der heutige Tag ist, darin sind sich alle in der Community einig. Einzig ein wenig Streit flammte die Woche bei der Frage auf, ob im dritten Reich nicht hauptsächlich schwule Männer verfolgt worden seien und weniger queere Personen, so beispielsweise Martina Haardt vom deutschen Verein LGB Alliance gegenüber BuzzFeed News: „Es gab zur damaligen Zeit keine Menschen, die sich als ‚queer‘ definierten. ‚Queer‘ ist eine neuzeitliche politische Theorie aus den USA, die das Geschlecht eines Menschen als einen frei wählbaren Gefühlszustand definiert und somit die Grundlage für die Diskriminierung von uns Homosexuellen, unser tatsächliches Geschlecht, auf dem unsere gleichgeschlechtliche sexuelle Orientierung basiert, leugnet. Die Nazis hat es nicht interessiert, als was sich ihre homosexuellen Opfer identifiziert haben, sondern was sie sind: homosexuell und einzig aus diesem Grund wurden sie ermordet. Sie nun als ‚queere‘ Opfer umzudeklarieren, weil es politisch opportun erscheint, ist respektlos gegenüber den Opfern.“

Sowohl Lehmann wie auch Engels sehen das anders. Engels vom LSVD erklärt dazu: „Für Lesben, Bisexuelle, trans* und intergeschlechtliche Personen, für die der Paragraf 175 nicht galt, wurden andere Kategorien und Vorwände wie beispielsweise ‚asozial‘ gefunden, um sie zu verhaften und auch in KZs einzuweisen. Eine Erinnerungskultur darf sich aber nicht an den Kategorien des Nationalsozialismus selbst ausrichten; das wäre absurd. Dass es nicht-männliche queere Opfer im 3. Reich gab, ist inzwischen endlich wissenschaftlich erforscht – unter anderem von Claudia Schoppmann – und dieser Tatsache ist auch mit der Gedenkkugel im KZ Ravensbrück vergangenes Jahr ein Zeichen gesetzt worden.“

Forschungslücke beim Umgang mit trans* Personen im Dritten Reich gilt es zu schließen

Dabei betont Engels weiter, dass noch viel Arbeit vor Vereinen wie dem LSVD liege: „Die Erforschung der Geschichte von Lesben muss noch ausgeweitet werden. Zudem ist die Forschungslücke bei trans* und intergeschlechtlichen Menschen zu schließen. Mein großer Wunsch an die queere Community ist es, dass wir keine Opferkonkurrenzen pflegen, sondern gemeinsam Zeichen setzen – bei der Erinnerung und beim Einsatz für die Rechte queerer Menschen hier und weltweit.“ Und der Queer-Beauftragte Lehmann ergänzt: „Ein Verfolgungsbegriff, der ausschließlich auf Paragraf 175 StGB fokussiert, wird der komplexen Geschichte von LSBTIQ* in Deutschland nicht gerecht.“

Klar ist dabei für alle, dass bis heute viel zu wenig über die Verfolgung von queeren Menschen in und nach der NS-Zeit geforscht worden ist – es gibt noch viele Fragezeichen. Vielleicht kann die heutige Gedenkstunde so auch ein Anstoß dazu sein, endlich etwas mehr Licht ins Dunkel der Geschichte zu bringen.

Wir sind es nicht nur den Generationen von LGBTQIA+-Menschen vor uns schuldig, sondern können auch nur so aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und besser gewappnet uns dem gegenüberstellen, was uns bis heute sowie möglicherweise in der Zukunft als Community bedroht.

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