Aufgeben oder weiterkämpfen? Der Krieg stürzt die Ukraine auch in ein ethisches Dilemma

Je mehr Menschen im Ukraine-Krieg sterben, desto dringlicher wird die Frage: Ab wann ist ein Krieg ethisch nicht mehr vertretbar? Wir haben mit zwei Ethiker:innen gesprochen.
Mehr als 3,4 Millionen Menschen haben laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) infolge des Ukraine-Kriegs ihr Zuhause verloren. Bei den Todesopfern sind die Zahlen nicht eindeutig. Glaubt man der ukrainischen Regierung, so kamen im Krieg bereits 1300 ukrainische Soldat:innen ums Leben (stand 12. März 2022). Außerdem starben laut UN-Hochkommissariat für Menschenrechte bisher um die 1000 Zivilist:innen. Einige von ihnen tragen weiße Armbinden – ein Militärexperte erklärt in diesem Text, warum. Aber wann sind im Angriffskrieg Russlands, eine der größten Militärmächte der Welt, zu viele Leben verloren? BuzzFeed News Deutschland hat zwei Ethiker:innen diese Frage gestellt.
In seinem Podcast mit Markus Lanz sagte der Schriftsteller Richard David Precht schon Mitte März, wie schlimm er es fände, dass Tausende durch den russischen Angriffskrieg ihr Leben verlieren. Und das, so sagte er es, durch einen Krieg, den man nicht gewinnen könne. Doch hat die Ukraine wirklich keine Chance auf den Sieg? Sie verteidigt sich gegen Russland jedenfalls erfolgreicher, als viele erwartet haben.
Ethisches Dilemma im Ukraine-Krieg: Ja oder Nein?
Andreas Urs Sommer ist Professor für Kulturphilosophie an der Universität Freiburg. Er findet es zwar gut, dass „selbsternannte Philosophen“ wie Richard David Brecht ganz im Sinne der Meinungsfreiheit sagen, was sie denken, hält es jedoch für arrogant in Deutschland zu sitzen und zu fordern, die Ukrainer:innen sollten ihre Waffen niederlegen. Sommer forscht momentan zu Demokratie und Partizipation. Seiner Ansicht nach gebe es im Ukraine-Krieg nicht unbedingt ein ethisches Dilemma. „Die Ukrainer:innen sind bereit, ihr Leben für ihre Freiheit und demokratische Werte aufs Spiel zu setzen – und das ist ihr gutes Recht.“
Das Verbot für 18 bis 60-jährige Männer, die Ukraine zu verlassen, findet der Ethiker problematisch. Er glaubt zwar, dass die Anordnung aus einer Notsituation heraus erfolgte, in der man noch gar nicht wusste, wie viele Ukrainer:innen bereit wären zu kämpfen, stellt jedoch infrage, wie viel es bringe, Leute zum Kämpfen zu zwingen. „Man sieht, dass viele Ukrainer:innen bereit sind, einen hohen Blutzoll zu zahlen, um ihre Werte zu verteidigen“, so Sommer. Das habe der Kreml auch nicht richtig eingeschätzt, weshalb Putins Invasion sich länger hinzöge, als der russische Präsident erwartete.
Exakte Zahlen, ab wann ein Krieg moralisch nicht mehr vertretbar wäre, gebe es nicht. „Der bloße Erhalt des Lebens ist für viele nicht der wichtigste Faktor“, erklärt Sommer. „Es geht nicht um die größte Summe des erhaltenen Lebens, es geht darum, dass unter russischer Besetzung kein Leben für die Ukrainer möglich ist.“
Fünf (ehemalige) Merkmale für einen „gerechten Krieg“
Claudia Paganini ist Professorin an der Hochschule für Philosophie in München und beschäftigte sich in letzter Zeit viel mit der Berichterstattung im Ukraine-Krieg. Gibt es im Ukraine-Krieg also ein ethisches Dilemma? „Ein Dilemma ist es auf jeden Fall!“, antwortet sie. „Früher, im klassischen Verständnis vom gerechten Krieg, wäre es kein Dilemma gewesen, denn man hatte eine klare Vorstellung vom Krieg und davon, wann es erlaubt ist, einen Krieg zu führen.“ So wurde ein „gerechter Krieg“ anhand folgender fünf Merkmale definiert, die auch heute noch oft für die ethische Betrachtung herangezogen würden.
- Gerechter Kriegsgrund: Wenn sich ein Staat wie die Ukraine gegen einen Aggressor wie Russland verteidige, so sei das ein „gerechter Grund“. Das Problem sei aber: Gründe hingen stark von Perspektiven ab, was man an Putin sehe, der vorgibt, einen legitimen Grund für seinen Angriff zu haben.
- Ultima Ratio: Für einen „gerechten Krieg“ sei es nicht nur wichtig, dass ein Grund besteht. Eine militärische Intervention müsse auch immer das letzte Mittel sein, das erst genutzt wird, wenn alle Diplomatie gescheitert ist, so Claudia Paganini.
- Legitime Autorität: Ein „gerechter Krieg“ wird nur von legitimen Autoritäten geführt. Die ukrainische Regierung sei solch eine Autorität. In diesem Fall sei aber auch die russische Regierung legitimiert, was die Invasion jedoch in keinem Fall „gerecht“ mache.
- Gerechte Absicht: Im Hintergrund eines „gerechten Krieges“ muss eine gerechte Absicht stecken, also beispielsweise die Verteidigung des demokratischen Systems. Dies sei im Ukraine-Krieg mit ein Hauptgrund, warum so viele Bürger:innen freiwillig gegen russiche Soldat:innen kämpfen, findet Andreas Urs Sommer.
- Aussicht auf Frieden: Ein bloßer Vernichtungskrieg beispielsweise könne niemals gerecht sein. Ziel eines Krieges müsse immer bleiben, dass man irgendwann am Verhandlungstisch landet, sagt Paganini.
Besonders das letzte Merkmal „Aussicht auf Frieden“ hebt Paganini hervor: „Lässt man in einem Verteidigungskrieg den Aggressor (Russland in diesem Fall) einfach walten, so wäre das strategisch sehr unvernünftig.“ Man wisse ja nicht, ob nicht trotzdem Kriegsverbrechen begangen und Menschen sterben würden. „Wenn ich einen völlig unberechenbaren Aggressor habe, ist selbst das Aufgeben ein Risiko“, sagt die Ethikerin im Gespräch mit BuzzFeed News Deutschland.
„Ethik und Realpolitik lassen sich nicht immer gut unter einen Hut bringen“
Paganini und Sommer scheinen sich hier einig zu sein: Wenn eine Demokratie wie die Ukraine vor einem Angreifer wie Russland die Waffen niederlegt, so ist das ethisch betrachtet nicht weniger problematisch, als für die eigenen Werte zu kämpfen und in dem Zuge mit Menschenleben bezahlen zu müssen. Wichtig sei heute aber laut Paganini, dass wir über den Krieg diskutieren und wissen: Wir können nur eine verhältnismäßig schlechte Entscheidung treffen. Ein gänzlicher Schuldfreispruch im Krieg sei nicht möglich.
„Man muss sich manchmal auch bewusst sein, dass man etwas tut, was problematisch ist und bleibt, aber es gibt keine bessere Option”, sagt die Ethikerin. Auf staatlicher Ebene gebe es sowieso selten radikal pazifistische Positionen. „Ethik und Realpolitik lassen sich nicht immer gut unter einen Hut bringen“, erklärt Paganini. Sichtbar sei das auch am Einsatz der Sanktionen gegen Russland, bei denen wirtschaftliche Interessen eine wichtige Rolle spielen. Sie betreffen auch die Menschen in Russland, die aufgrund der Sanktionen vor leeren Regalen stehen.
Ukrainer:innen kämpfen im Krieg gegen Russland auch für westliche Werte
Im Ukraine-Krieg kämpfen die ukrainischen Soldat:innen nicht nur für sich selbst, sagt Andreas Urs Sommer von der Universität Freiburg. „Russland greift westliche Werte an. Bei der ethischen Betrachtung geht es also auch unbedingt um uns, um Deutschland“, sagt der Philosophieprofessor. Wir müssten uns fragen: „Wie steht es um unsere eigenen Werte? Was sind wir bereit, für eine Demokratie zu geben?“ Westliche Länder müssten sich unter den Bedingungen des Ukraine-Kriegs die Frage stellen, wie sich Demokratien in Zukunft aufstellen müssen.
Westliche Länder und ihre Demokratien seien nicht perfekt, sagt Sommer. „Der ausgebrochene Krieg in der Ukraine ist eine kollektive Ohnmachtserfahrung und kommt einer Aufforderung gleich, das unvollkommene Projekt der Demokratisierung voranzutreiben“, meint er. In Deutschland seien wir jahrelang eine „zivile Wohlfühldemokratie“ gewesen. Jetzt sei es an der Zeit, dass auch wir uns mit Krieg, Frieden und der Aufrüstung unserer Armee kritisch auseinandersetzen.
In diesem Artikel schreiben wir darüber, wie Menschen in der Ukraine ihr Leben riskieren, um Tiere vor dem Krieg zu retten.