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EU-Klage gegen Ungarns LGBTQIA+-Gesetz: Deutschland zögert immer noch

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Von: Michael Schmucker

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Ministerpräsident von Ungarn Viktor Orbán (links) und Katarina Barley, Vizepräsidentin des EU-Parlaments (rechts).
Ministerpräsident von Ungarn Viktor Orbán (links) und Katarina Barley, Vizepräsidentin des EU-Parlaments (rechts). © Michel Euler/Michael Kappeler/dpa

Ob sich die Bundesrepublik am Prozess gegen Ungarns queerfeindliches Gesetz beteiligt, ist weiter unklar. EU-Parlamentsvize Barley hofft, dass sich das bald ändert.

Seit 2021 verbietet ein Gesetz in Ungarn in erster Linie homosexuelle, aber auch queere Themen an Schulen sowie in den Medien, wenn diese Jugendlichen unter 18 Jahren zugängig gemacht werden könnten. Realistisch betrachtet kommt das einem Komplettverbot von LGBTQIA+-Themen gleich. Aktivist:innen liefen Sturm gegen die Richtlinien, viele EU-Mitgliedsstaaten verurteilten mit scharfen Worten das Gesetz.

Nach langwierigen internen Verfahren hat die EU-Kommission sich schlussendlich dazu entschlossen, eine Klage vor dem Gerichtshof der Europäischen Union einzuleiten. Sechs Wochen lang konnten sich die EU-Mitgliedsstaaten als Streithelfer an dem Prozess beteiligen, um der Klage mehr Gewicht zu geben und ein klares Signal für LGBTQIA+-Rechte in Europa auszusenden. Dieser Aufforderung kamen auch diverse Länder nach, beispielsweise die Niederlande, Portugal, Belgien, Irland und zuletzt sogar Österreich trotz interner politischer Streitigkeiten. Deutschland indes schweigt bis heute – aber warum?

Deutschland zögert bei EU-Klage gegen das queerfeindliche Gesetz in Ungarn

Die Ampel-Koalition hat sich mit dem Koalitionsvertrag auf die Fahnen geschrieben, die Rechte von queeren Menschen zu stärken. Nun herrscht seit beinahe sechs Wochen eisernes Schweigen in puncto EU-Klage, die Frist dafür läuft Anfang kommender Woche ab. Vielleicht tritt Deutschland in letzter Minute dem Verfahren noch bei, doch selbst dann, ist der bisherige Vorgang bereits ein äußerst peinlicher.

Warum muss eine queer-freundliche Regierung so lange überlegen, ob sie sich gegen ein eindeutig queer-feindliches Hass-Gesetz stellt? Das Politmagazin Politico Europe aus Brüssel mutmaßte sogar, Bundeskanzler Olaf Scholz höchstpersönlich tue sich schwer mit dem Schritt, um nicht als „woke“ eingestuft zu werden, so wie der ungarische Ministerpräsident Victor Orbán queer-freundliche Projekte gerne generell diffamiert. Kann das stimmen?

Olaf Scholz „tappt buchstäblich in Putins und Orbáns Falle“

Hinter der Klage stehen auch drei europäische LGBTQIA+-Menschenrechtsorganisationen, allen voran Forbidden Colours. Direktor Rémy Bonny zeigte sich online wütend über die Vermutung, dass der deutsche Bundeskanzler vielleicht aus taktischen Gründen eine Zustimmung zur Klage verweigert: „Er tappt buchstäblich in Putins und Orbans Falle. Das ist eine Schande für Deutschlands Führungsrolle in der EU!“

Gegenüber BuzzFeed News erklärt Bonny zudem: „LGBTIQ+-Menschen werden überall in der Europäischen Union diskriminiert. Als Hüterin der EU-Verträge muss die Europäische Kommission LGBTIQ+-Bürger überall dort schützen, wo gegen EU-Recht verstoßen wird.“ Zuletzt gab die EU-Kommission kein gutes Bild ab, nachdem sie die Verfahren gegen Polen und die dort initiierten „LGBT-freien Zonen“ still und leise zu Beginn des Jahres einstampfte.

„Nicht nur im Fall von Polen versagt die Kommission, sondern auch in Rumänien und Bulgarien sind Fälle anhängig, in denen die Kommission ihren Pflichten nicht nachkommt.“ Ähnlich sieht das auch die Vizepräsidentin des EU-Parlaments Katarina Barley gegenüber BuzzFeed News: „Leider hat die Kommission bei verschiedenen Problemen in Polen und Ungarn zu spät und halbherzig reagiert. Klar ist, dass wir in der EU für die Rechte von LGBTQI* einstehen und gerade als Europäisches Parlament alles dafür tun, dass die Mitgliedstaaten diese Rechte wahren.“

EU klagt zum ersten Mal gegen eine Menschenrechtsverletzung in einem Mitgliedsstaat

Ein wenig scheint die Europäische Union insgesamt die Kritik vernommen zu haben. In einem historischen und überraschenden Schritt beschloss der Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments in dieser Woche jetzt, sich dem Verfahren der EU-Kommission gegen Ungarn anzuschließen. Es ist das erste Mal in der EU-Geschichte, dass sich das Parlament einer Klage gegen eine Menschenrechtsverletzung in einem Mitgliedsstaat anschließt. Für Bonny ein historischer Schritt. Der französische liberale Europaabgeordnete Pierre Karleskind hatte den Beitritt zur Klage angestoßen und erklärte anschließend: „Wenn ihr die Werte angreift, wird euch das Europäische Parlament im Weg stehen!“

Ähnlich sieht das auch Vizepräsidentin Barley: „Es hat besonderes Gewicht, wenn Mitgliedstaaten in großer Zahl einem Verfahren beitreten. Und das ist hier mehr als angemessen. Es geht zum einen um die Verteidigung grundlegender Werte der EU, der Gleichberechtigung aller Menschen unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung. Und es geht um eine wesentliche Fortentwicklung des Unionsrechts: Zum ersten Mal rügt die Kommission eine Verletzung des Artikel 2 des EU-Vertrags, also der Bestimmung, die die grundlegenden Werte festhält, auf denen sich die EU gründet. Das sollte Deutschland zusammen mit möglichst vielen anderen Mitgliedsstaaten unterstützen.“

EU-Parlamentsvize Katarina Barley hofft, dass sich Deutschland anschließt

Barley hofft nach wie vor, dass sich Deutschland dem Verfahren als Streithelfer anschließen wird: „Die aktuelle Koalition hat sich in ihrem Koalitionsvertrag ja nicht nur ganz klar zur Unterstützung queerer Menschen, sondern auch zu einer EU bekannt, die ihre Werte und ihre Rechtsstaatlichkeit nach innen wie außen schützt und entschlossen für sie eintritt.“

Ein klares Statement seitens Deutschlands sowie der EU insgesamt ist für queere Menschen auch deswegen besonders wichtig, weil in anderen EU-Ländern wie beispielsweise Rumänien, Kroatien aber auch Italien immer wieder in jüngster Zeit versucht wird, Rechte einzuschränken oder zurückzudrängen. „Ungarns Anti-LGBTIQ+-Gesetz ist eine Kopie des russischen Anti-LGBTIQ+-Propaganda-Gesetzes. Mit diesem Gesetz bringt Viktor Orbán im Grunde die Gesetzgebung des Kremls in die Europäische Union. Ich hoffe, alle Mitgliedsstaaten wachen auf. Hier geht es nicht nur um LGBTIQ+-Rechte, sondern um die zentralen Grundwerte, für die die Europäische Union steht. Wenn wir weiterhin zulassen, dass die ungarische Regierung ein trojanisches Pferd von Wladimir Putin in der Europäischen Union spielt, wird dies die größte Gefahr für unsere gemeinsame Sicherheit sein, die wir in der EU je erlebt haben“, so Bonny weiter.

Situation von queeren Menschen in Ungarn

Die ungarische Hatter Organisation ist die zweite der drei europäischen Verbände, die die EU-Klage gegen Ungarn zum größten Menschenrechtsverfahren in der EU-Geschichte machen will. Gegenüber BuzzFeed News skizziert Direktor Eszter Polgári, wie queere Menschen in Ungarn die aktuelle Situation wahrnehmen: „Trotz der Panikmache der ungarischen Regierung gegen LGBTQI-Menschen und der Anti-LGBTQI-Gesetzgebung hat sich die Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten nicht wesentlich verschlechtert. Die Anti-LGBTQI-Rhetorik der Regierungsmehrheit hat jedoch erhebliche Auswirkungen auf das Leben von LGBTQI-Personen!“

Im Kopf vieler, auch heterosexueller Menschen werde so die Frage im Kopf immer größer, was man überhaupt noch sagen dürfe. Zudem wirke sich die queer-feindliche Haltung der rechtskonservativen Regierung Orbáns auch auf die Zahl der Hassvorfälle im Land aus: „Homo- und Trans-Phobiker fühlen sich berechtigt, Maßnahmen zu ergreifen, um das Verbot des Gesetzes durchzusetzen. Diese – oft gewalttätigen – Angriffe nutzen das Kinderschutz-Narrativ, um Maßnahmen gegen LGBTQI-Personen zu rechtfertigen, die nicht an illegalen Aktivitäten beteiligt sind.“

„Nicht nur Strafzahlungen“ – Barley sieht Möglichkeit, Orbán den Geldhahn weiter zuzudrehen

Es ist also wichtiger denn je, dass ein klares Signal gegen Queer-Hass von der EU ausgeht. Barley vom EU-Parlament will noch in diesem Jahr mit einer Bestandsaufnahme deutlich machen, wo die EU in puncto queerer Rechte steht und welcher Weg noch vor ihr liegt. Und mit Blick auf Orbán ergänzt sie: „Wir haben mittlerweile gelernt, wie wir einem Autokraten wie Victor Orbán am besten Einhalt gebieten können: mit dem Geldhahn. Aktuell liegt ein Großteil der Zahlungen der EU an Ungarn auf Eis. Jetzt gibt es wenigstens vereinzelt Bewegung. Verurteilt der EuGH Ungarn und Ungarn reagiert nicht, wird es nicht nur zu Strafzahlungen kommen, wir werden selbstverständlich als Europäisches Parlament auch darauf drängen, den Geldhahn noch weiter zuzudrehen.“

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