EU-Parlamentsvize Barley sieht Einheit der EU in Gefahr: „Polen und Ungarn untergraben die Demokratie“

Die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Katarina Barley, glaubt, dass Viktor Orbáns Politik „der EU wirklich schaden kann“.
Politische Beobachter:innen und Journalist:innen berichten seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine von einer „neuen Geschlossenheit“ der Europäischen Union (EU). Die Staats- und Regierungschef:innen der 27 EU-Staaten seien sich einig, dass der Krieg schnellstmöglich beendet werden müsse und beschlossen in ungewohnter Geschwindigkeit scharfe Sanktionen gegen Russland. Wegen der Gräueltaten in der Ukraine stehen nun auch Sanktionen im Energiebereich im Raum. Die EU-Kommission schlug vor einer Woche auch ein Einfuhrverbot für Kohle aus Russland vor. Ein Embargo gegen Öl könnte folgen.
Je länger der Krieg in der Ukraine andauert, umso deutlicher beginnt allerdings die Einigkeit der EU wieder zu bröckeln: Ungarn will nun für russische Gaslieferungen auch in Rubel bezahlen, wie Ministerpräsident Viktor Orbán sagte. „Wenn die Russen Rubel verlangen, bezahlen wir in Rubel.“ Andere EU-Staaten, darunter Deutschland, lehnen das strikt ab, wie die dpa berichtet.
EU-Kommission geht wegen Rechtsstaatsverstöße gegen Ungarn vor
Orbán, der abermals die Wahl in Ungarn für sich entschieden hat, gilt seit langem als enger Verbündeter des russischen Präsidenten Wladimir Putins. Ungarn steht zudem seit Jahren für seinen anti-demokratischen Kurs in der Kritik. Orbán wird vorgeworfen, die Rechtsstaatlichkeit in seinem Land zu untergraben, weshalb die EU-Kommission einen Tag nach der Wiederwahl Orbáns vergangene Woche bekannt gab, erstmals den sogenannten Rechtsstaatsmechanismus gegen Ungarn einzuleiten. Damit will die EU dem Land die Gelder kürzen. Der Mechanismus sieht vor, Mitgliedsstaaten, die gegen EU-Recht verstoßen, die Mittel zu kürzen.
BuzzFeed News Deutschland hat mit der Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Katarina Barley, über die Korruption in Ungarn gesprochen, über Orbáns Einflussmöglichkeiten als Vorposten Russlands und Frauen in der Außenpolitik.
Viktor Orbán hat die Wahl in Ungarn erneut gewonnen. Die EU-Kommission hat angekündigt, Ungarn die Gelder kürzen. Was steckt dahinter?
Seit zwölf Jahren demontiert Viktor Orbán die Demokratie in seinem Land. Noch dazu haben wir eine himmelschreiende Korruption. Europäische Gelder versickern in seinen Taschen und den seiner Familie und Freund:innen. Die Frage müsste also eher sein, wieso kommt dieser Schritt erst jetzt.
Ist die weitere Amtszeit von Orbán eine schlechte Nachricht für die EU? Wie geht man damit um?
Ich finde den Zeitpunkt dafür, Gelder zu kürzen, sehr schlecht gewählt. Den Rechtsstaatsmechanismus haben wir als EU-Parlament zum 1. Januar 2021 durchgesetzt und er hätte schon längst angewendet werden müssen. Es am Tag nach der Wahl zu tun, unterstützt Orbáns Erzählung, dass die EU das Votum der ungarischen Bevölkerung abstraft und darum geht es natürlich nicht. Der Korruption kann man mit dem Instrument einen Riegel vorschieben. Und das wird Orbán spüren, der die europäischen Gelder missbraucht, um sich den Staat Untertan zu machen.
Ukraine-Krieg: Orbáns Einfluss als Verbündeter Putins und die Sanktionen gegen Russland
Orbán fällt auch hinsichtlich der Sanktionen gegen Russland auf und ist im Gegensatz zu anderen EU-Staaten bereit, Gaslieferungen in Rubel zu bezahlen.
Es war abzusehen, dass das passieren wird. Orbán ist schon lange ein Verbündeter von Wladimir Putin und spielte schon in der Vergangenheit den Türöffner für ihn.
Wird Orbán nach seinem Wahlsieg nun noch weiter in die russische Richtung rücken?
Jetzt muss er auf niemanden mehr Rücksicht nehmen. Wir werden noch stärker erleben, dass Viktor Orbán der Vorposten Russlands ist. Ich glaube, dass er eine Politik machen kann, die der EU wirklich schaden kann. Er hat ja auch Zugang zu allen möglichen Informationen.
Wird er sich querstellen, was die Sanktionen gegen Russland angeht?
Wie offen er das tut, kann ich schwer vorhersagen, aber er wird es tun. Und es wird sich nicht auf den Krieg beschränken. Das haben wir in der Vergangenheit schon gesehen. Da hat er versucht, EU-Sanktionen gegen China wegen der Menschenrechtsverletzungen an den Uiguren zu blockieren.
Katarina Barley sieht die Gemeinschaft der EU gefährdet

Auch Polen hält sich seit Jahren nicht an rechtsstaatliche Prinzipien. Ist auch hier ein Verfahren nach dem Rechtsstaatsmechanismus nötig?
Man hätte auch dieses Verfahren schon lange einleiten müssen. Im Moment hält die Kommission beim Corona-Wiederaufbaufonds die Gelder für Polen und Ungarn zurück. Für Polen wird sie diese immerhin 24 Milliarden Euro bald freigeben, weil man sagt, Polen leiste gerade wirklich großartiges, in Bezug auf die vielen ukrainischen Geflüchteten, die das Land aufnimmt.
Sehen Sie das anders?
Man muss Polen mit allen Mitteln unterstützen, ihnen viel Geld geben, aber zweckgebunden an das, was sie brauchen, um die Geflüchteten zu versorgen. Wenn die polnische Regierung jetzt das Geld aus dem Wiederaufbaufonds bekommt, obwohl es am Justizsystem nichts Substanzielles ändert, ist das Signal: Ihr kommt damit davon. Und davon, dass die EU-Kommission den Rechtsstaatsmechanismus bei Polen anwendet, sind wir weit entfernt.
Gefährdet der zunehmende anti-demokratische Kurs von Polen und Ungarn die Gemeinschaft in der EU?
Ja, schon lange. Polen und Ungarn untergraben nicht nur die Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und vor allem die Gewaltenteilung in ihrem Land, sondern finden ihre Interpretation von Rechtsstaatlichkeit legitim und vertreten die Ansicht, dass jeder andere Staat das auch machen darf. Das führt dazu, dass sich Slowenien auf den gleichen Weg macht. Das ist brandgefährlich. Wenn Marine Le Pen als Siegerin bei den Wahlen in Frankreich hervorgehen sollte, können wir uns auf etwas gefasst machen. Sie wird das nämlich übernehmen, dass man als Land die Rechtsstaatlichkeit selbst interpretieren kann.
Vizepräsidentin des EU-Parlaments Barley über das Verhältnis zu Russland und feministische Außenpolitik
Was müsste passieren, damit sich das Verhältnis der EU zu Russland irgendwann wieder normalisiert? Ist das überhaupt möglich?
Davon kann man im Moment noch gar nicht sprechen. Wir müssen jetzt alles tun, um die Ukraine zu unterstützen. Was man mit Russland durchaus fortsetzen kann, ist der zivilgesellschaftliche Austausch der Bevölkerungen, etwa durch Städtepartnerschaften. Und wir müssen medial etwas tun, dass die russische Propaganda nicht mehr alleine da steht. Auf der offiziellen Regierungsebene wird es keine Annäherung geben, solange Putin an der Macht ist.
Vor kurzem sagten Sie in einem Interview, dass „zu viel Testosteron und eine übertriebene Männlichkeit schlechte Auswirkungen auf Außenpolitik“ hat. Könnten mehr Frauen in der Außenpolitik künftig Kriege verhindern?
Es gibt einen Forschungszweig, der feministische Außenpolitik heißt. Der hat nachgewiesen, dass eine andere Form von Gesellschaft gefördert wird, wenn Frauen zum Beispiel bei der Entwicklungszusammenarbeit Verantwortung übernehmen, als wenn das immer die egostärksten Männer übernehmen. Schaut man sich in der Welt um, sind es Frauen, die als Regierungschefinnen der derzeit erfolgreichsten Ländern wie Finnland, Schweden, Dänemark, Neuseeland und Estland einen sensationellen Job machen. Das heißt nicht, dass alle Frauen die besseren Führungskräfte und alle Männer schlechte Führungskräfte sind. Wir brauchen eine gute Mischung. Ich glaube, das würde sich dann auch auf kriegerische Konflikte entschärfend auswirken.