Dass aus der AfD polarisierende Aussagen zur Migrationspolitik kommen (wie die Aussage, Migration ist schuld an Messerattacken), beschränkt sich nicht nur auf die Tage vor dem Flüchtlingsgipfel. Schon Anfang April twitter Marc Bernhard, Sprecher der Landesgruppe Baden-Württemberg, dass „die Asylzahlen explodieren“ würden. „Im Januar und Februar 85 Prozent mehr Asylanträge als im Vorjahr“, schreibt er.
Tatsächlich sind die Asylanträge gestiegen – das BAMF meldete im Januar 2022 rund 14.000 Anträge, 2023 rund 29.000 (Seite 4). Schaut man sich jedoch die Zahl von August 2016 an, die laut Mediendienst Integration bei rund 90.000 lag, so wird deutlich: Von einer Explosion kann man im April 2023 nicht sprechen. Im Vergleich zu diesen Jahren bleibt die Zahl der Asylanträge gering. Im Vergleich zum Wert des Vormonats März 2023 sank die Anzahl übrigens um 27 Prozent.
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Ende April äußerte sich Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) zu einem „historischen Momentum“ für die EU-Asylpolitik. Die Ampelregierung habe sich darauf geeinigt, dass Asylverfahren bereits an Außengrenzen stattfinden und höchstens zwölf Wochen dauern sollen. „Don‘t be fooled“, twittert die Asylberaterin Inga Matthes vom Roten Kreuz. Sie bezeichnet Faesers „historisches Momentum“ als „verpflichtende Grenzverfahren“, bei dem Menschen drei Monate lang inhaftiert sind.
Dann werden sie entweder abgeschoben oder in die EU gelassen, wo sie noch einmal ein Asylverfahren erwarte. „Was bedeutet das für Geflüchtete mit besonderen Bedarfen, Traumatisierung, Kinder? Was, wenn die Betroffenen dem ersten Anschein nach kein Recht auf Schutz in der EU haben, aber auch nicht abgeschoben werden können? Wie lange bleiben sie in Haft??“, fragt die Asylexpertin. Ein besonderes Momentum sei das schon, aber nur in Sachen „Brutalität“.
Stellvertretender Vorsitzender der AfD-Bundestagsfraktion Norbert Kleinwächter twitter am 3. Mai 2023, dass Deutschland 2022 160.000 Geflüchtete aufgenommen habe und das „40 Prozent aller Gesuche innerhalb der EU“ seien. Dabei stimmt weder das eine, noch das andere. Zumindest nicht, wenn man sich die Zahlen des Mediendiensts Integration anschaut. „2022 hat Deutschland rund 1,2 Millionen Schutzsuchende aufgenommen – die meisten von ihnen aus der Ukraine“, schreibt der Dienst.
Meint der AfD-Politiker die Flüchtenden, die Asylanträge stellen (Ukrainer:innen bekamen auch ohne Asylanträge vorübergehenden Schutz), dann liegt er näher dran. Im Gesamtjahr 2022 hat das BAMF über 228.673 von 244.132 Asylanträgen entschieden und 128.463 Personen Schutz zugesprochen – mit einer Gesamtschutzquote von 56,2 Prozent, heißt es beim Mediendienst Integration. Zählt man andere Gruppen dazu, die auch ein Aufenthaltsrecht bekommen haben, liegt man aber bei rund 250.000 Menschen, nicht bei 160.000.
Im Vergleich mit der EU liegen die 244.132 eingereichten Asylanträge etwa bei 25 Prozent – nicht bei 40 Prozent. Denn 2022 wurden nach Angaben der Asylagentur der Europäischen Union (EUAA) rund 966.000 Asylanträge (einschließlich Folgeanträge) in der Europäischen Union gestellt. Wie schon gesagt, sind in dieser Rechnung keine Geflüchteten aus der Ukraine enthalten, die in der Europäischen Union einen „vorübergehenden Schutz“ erhalten haben.
Eine Bundesagentur für Migration ist „keine alleinige Lösung“, findet Grünen-Politikerin.
FDP-Vorsitzender Christian Lindner sagte in einer Talkrunde von RTL/ntv: „Ich glaube, dass, um Kontrolle herzustellen, auch der physische Schutz der Außengrenze in Betracht gezogen werden muss“ – etwa durch einen Grenzzaun. Er sei dafür, „wenn zugleich die Möglichkeit humanitärer und qualifizierter Einwanderung rechtlich erleichtert wird“.
Laut dem Migrationsreporter Steffen Lüdke vom Spiegel sei dies „Schlagzeilen geiles Asyltheater, das mit der Realität nur noch am Rande zu tun hat“. Auf Twitter kritisiert er die Aussage vor allem deshalb, weil Europa schon jetzt fast vollständig eingezäunt sei. Es würden sogar systematisch Geflüchtete zurückgeschleppt. „Man kann natürlich für robusteren Grenzschutz argumentieren“, so Lüdke – dann sollte man jedoch zunächst „den Status Quo anerkennen und nicht so tun, als würde Asylsuchenden derzeit freundlich zugewunken.“
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Die Kommunen stünden zum Recht auf Asyl, Schutzsuchende müssten aber geordnet untergebracht und integriert werden können, betonte der Präsident des Landkreistages, Henry Graichen (CDU). „Daher brauchen wir eine Begrenzung der Zugangszahlen zur Ordnung des Gesamtsystems. Eine Obergrenze ist nötig!“ Auch Sachsens Innenminister Armin Schuster sprach sich am Montag, 8. Mai in der mdr-Sendung „Fakt Ist!“ für eine flexible Begrenzung der Migration nach Deutschland aus.
„Das ziellose Aufnehmen, wie es derzeit passiert, ist nicht durchzuhalten“, sagte er. Die Gesellschaft sei nicht in dem Maße bereit, wie es 2015 der Fall war. Eine Äußerung, die Amnesty International mit „großer Sorge“ beobachtet. Die Nichtregierungsorganisation (NGO) spricht bei den Forderungen einer Obergrenze von „zunehmenden menschenrechtlich zweifelhaften Forderungen und verbalen Entgleisungen von Politiker*innen vor dem Gipfel“. Vor allem, weil die Rekordzahlen von 2016 (siehe oben) noch lange nicht erreicht sind.
„Bund und Länder dürfen nicht durch menschenrechtlich zweifelhafte Vorschläge Handlungsfähigkeit suggerieren“, warnt Julia Duchrow, stellvertretende Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland. Es kämen nach wie vor flüchtende Menschen aus Syrien und Afghanistan nach Deutschland, die aus verschiedenen Krisenregionen fliehen, in denen es „seit Jahren nicht ausreichend Schutz gibt“.
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(Mit Material der dpa)