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In den USA fällt das konstitutionelle Recht auf Abtreibung

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Demonstrant:innen halten Schilder hoch, während sie für Abtreibungen protestieren.
Demonstrant:innen protestieren vor dem weißen Haus gegen das Urteil des Supreme Court. © NurPhoto/IMAGO

Das Oberste Gericht der USA kippt den historischen Fall „Roe vs. Wade“ und macht damit den Weg frei für Abtreibungsverbote im ganzen Land.

Der Oberste Gerichtshof kippte am Freitag das Grundsatzurteil, mit dem Abtreibungen in den USA landesweit legalisiert wurden. Damit wurde ein fast 50 Jahre alter Grundsatz, der das Recht auf freie Entscheidung über den eigenen Körper schützte, rückgängig gemacht. Am selben Tag beschloss der Deutsche Bundestag die Abschaffung des umstrittenen Paragrafen 219a – die Pro-Familia Chefin begrüßt diese Entscheidung.

In einer 6:3-Entscheidung, die von Richter Samuel Alito überwacht wurde, hob das Gericht sein Urteil aus dem Jahr 1973 in der Rechtssache „Roe v. Wade“ auf und bestätigte das in Mississippi geltende Verbot von Abtreibungen nach der 15. Woche, was bedeutet, dass die einzelnen Bundesstaaten nun die Möglichkeit haben, das medizinische Verfahren vollständig zu verbieten – und zu kriminalisieren.

„Es ist an der Zeit, die Verfassung zu beachten und die Frage des Schwangerschaftsabbruchs wieder den gewählten Volksvertreter:innen zu überlassen“, schrieb Alito. „Das ist es, was die Verfassung und die Rechtsstaatlichkeit verlangen“.

Abtreibungen in den USA: Nach Supreme Court Entscheidung sagen Expert:innen Chaos voraus

Die Entscheidung wird zweifellos Chaos für Schwangere, Krankenpersonal und Gerichte im ganzen Land verursachen, da sie sich in einer Welt nach „Roe“ zurechtfinden müssen. Obwohl Abtreibungen in Staaten wie Kalifornien und New York, die reproduktive Rechte gesetzlich schützen, weiterhin legal bleiben, wird erwartet, dass große Teile des Südens und des Mittleren Westens den Zugang zu Abtreibungen verbieten werden.

Personen, die in Staaten leben, in denen Abtreibungen illegal sind und sich eine Reise in einen anderen Bundesstaat leisten können, werden sich wahrscheinlich dort behandeln lassen. Schon jetzt machen sich einige auf die Reise in andere Staaten – eine Fotografin hat Frauen bei ihren Abtreibungen begleitet. Doch wie auch schon nach Texas‘ Verbot von Abtreibungen nach der sechsten Schwangerschaftswoche könnte diese Flut an Patient:innen die Einrichtungen dort überfordern. Das führt wiederum zu Verzögerungen. Für Millionen von Menschen mit geringem Einkommen, die häufig People of Colour (POC) sind, kann eine sichere und legale Versorgung bald unerreichbar sein.

„Ein heilloses Chaos liegt vor uns, da einige Bundesstaaten sich mit strafrechtlichen Abtreibungsverboten unterbieten und Menschen dazu zwingen, durch mehrere Bundesstaaten zu reisen, um abzutreiben. Das sind diejenigen, die das Geld dafür nicht haben, ihre Schwangerschaften auszutragen – was über ihre Gesundheit, ihr Leben und ihre Zukunft entscheidet“, sagte Nancy Northup, Präsidentin und Geschäftsführerin des „Center for Reproductive Rights“. Die Organisation vertrat Mississippis einzige verbleibende Abtreibungsklinik in dem Fall, der am Freitag, 24. Juni 2022, vor Gericht entschieden wurde. „Die heutige Entscheidung wird einen öffentlichen Gesundheitsnotstand auslösen.“

Die neun Richter:innen des Obersten Gerichtshofs der USA posieren für ein Foto.
Hinten (v.l.): Brett Kavanaugh, Elena Kagan, Neil Gorsuch, Amy Coney Barrett Vorne (v.l.): Samuel Alito, Clarence Thomas, John Roberts, Stephen Breyer, Sonia Sotomayor © dpa/Pool New York Times/AP/picture alliance

Abtreibungsrecht in den USA liegt jetzt in den Händen der Bundesstaaten

Nach dem Ende von „Roe“ wird erwartet, dass 26 Staaten Abtreibungen bereits in frühen Phasen der Schwangerschaft oder ganz verbieten werden, so das „Guttmacher Institute“, eine Forschungs- und Beratungsgruppe für Abtreibungsrechte, die die Gesetzgebung in den Staaten überwacht. Davon haben 13 Bundesstaaten, darunter Texas, Wyoming, Oklahoma und Mississippi, bereits sogenannte „Trigger“-Gesetze verabschiedet, die jetzt, da „Roe“ gefallen ist, oder durch schnelle staatliche Maßnahmen, in Kraft treten sollen. In Texas wurde vor kurzer Zeit eine 26-Jährige wegen „selbst herbeigeführter Abtreibung“ festgenommen – auch hier wurde schon Protest laut.

In mindestens 16 Bundesstaaten und dem District of Columbia, in denen das Recht auf Abtreibung gesetzlich geschützt ist, werden Abtreibungen weiterhin möglich sein. Auch medikamentöse Abtreibungen, die inzwischen mehr als die Hälfte aller Abtreibungen in den USA ausmachen, sind weiterhin möglich – obwohl auch sie auf Widerstand von Abtreibungsgegner:innen stoßen. Abtreibungsfonds können Menschen dabei helfen, die das Geld für eine Behandlung außerhalb ihres Heimatstaates aufbringen müssen.

„Es gibt Organisationen, die Sie an einen sicheren Ort bringen können, an dem Abtreibungen noch möglich sind. Sie sorgen dafür, dass Sie alles haben, was Sie brauchen, um die für Sie beste Entscheidung zu treffen“, sagte Emma Hernández, eine Sprecherin der Non-Profit-Organisation „We Testify“, die sich für reproduktive Rechte einsetzt.

Die Abschaffung von „Roe v. Wade“ ist keine Überraschung

Die Entscheidung kommt einige Wochen, nachdem ein früher Meinungsentwurf vom Bundesrichter Samuel Alito geleakt wurde. Er deutete darauf hin, dass er und andere Mitglieder der konservativen Mehrheit des Obersten Gerichtshofs dafür waren, „Roe v. Wade“ und „Planned Parenthood v. Casey“ außer Kraft zu setzen. Die Entscheidung von 1992 bestätigte „Roe“ und legte neue Standards fest, die Bundesgerichte verwendeten, um zu entscheiden, ob staatliche Einschränkungen der Abtreibung rechtmäßig sind.

Der Entwurf der Stellungnahme, der von Politico veröffentlicht wurde, übernahm weitgehend die Argumente – und die Wortwahl – des Staates Mississippi in der Rechtssache „Dobbs v. Jackson Women‘s Health Organization“. In der hieß es, „Roe“ sei „ungeheuerlich falsch“ und „Planned Parenthood v. Casey“ habe das Problem nicht gelöst. In dem 98-seitigen Dokument schrieb Alito, dass das Thema den Staaten überlassen werden sollte, da die Verfassung nicht ausdrücklich auf Abtreibungen Bezug nehme und sich diese von anderen vom Gericht anerkannten Rechten „grundlegend [unterscheiden]“.

Die Enthüllung stellte einen massiven Verstoß gegen das Protokoll des Obersten Gerichtshofs dar und sorgte für Aufregung. Sie zeigte, dass die konservative Mehrheit des Gerichts bereit war, das jahrzehntelang geltende Abtreibungsrecht abzuschaffen.

Konservative Richter:innen zitieren Juristen aus dem 17. Jahrhundert in ihrer Begründung

Obwohl die konservativen Richter:innen bereit zu sein schienen, zugunsten von Mississippi zu entscheiden und die Abtreibungsrechte während der Dobbs-Debatte im Dezember einzuschränken, waren sie sich bei den Fällen „Roe“ und „Casey“ nicht einig. Einige liberale Richter:innen warnten davor, dass die Entscheidung nicht nur dem Land, sondern auch dem Obersten Gerichtshof als Institution schaden könnte. „Wird diese Institution es überleben, dass durch die Entscheidung die öffentliche Wahrnehmung entsteht, dass die Verfassung und ihre Auslegung nur ein politisches Spiel sind?“, fragte Richterin Sonia Sotomayor.

Die endgültige Begründung des Gerichts entsprach weitgehend dem durchgesickerten Entwurf und bezeichnete die Argumentation im Fall „Roe“ als „besonders unzureichend“. Dabei zitierten die Richter:innen sogar Juristen aus dem 17. Jahrhundert, die Abtreibungen als Verbrechen bezeichneten. Darunter ein Richter, der laut New York Times dafür bekannt war, dass er schrieb, Vergewaltigung in der Ehe sei kein Verbrechen, weil eine Frau vertraglich zum Sex mit ihrem Ehemann verpflichtet sei und ihre Zustimmung nicht widerrufen könne.

Wie es besser geht, zeigt derzeit Spanien – hier sind Abtreibungen ein Gesundheitsrecht.

Liberale Richter:innen kritisieren das Urteil des Supreme Court zu Abtreibungen scharf

In ihrer eigenen Stellungnahme übten liberale Richter:innen scharfe Kritik an dem Urteil. Sonia Sotomayor, Stephen Breyer und Elena Kagan erklärten, dass die Mehrheit die „geografisch weitreichenden Auswirkungen“ bei ihrer Entscheidung missachtet habe. „Die heutige Entscheidung, so die Mehrheit, erlaubt es ‚jedem Staat‘, Abtreibungen nach eigenem Ermessen zu regeln“, schrieben die drei Richter:innen in ihrer Stellungnahme. „Das ist natürlich nur ein schwacher Trost für die Frau, die nicht genügend Geld hat, um für einen Eingriff in einen anderen Staat zu fliegen.“

Das Recht auf Abtreibungen sei für die Gleichstellung der Geschlechter von großer Bedeutung, argumentierten die Anwält:innen des „Center for Reproductive Rights“ und andere in Briefen an das Gericht. Die Aufhebung von „Roe“ könnte auch weitere wichtige Errungenschaften für Frauen zunichtemachen und das Leben von Schwangeren gefährden. Menschen, denen ein Schwangerschaftsabbruch verweigert werde, seien größeren gesundheitlichen Risiken während der Schwangerschaft und bei der Geburt ausgesetzt, würden Bildungschancen verlieren und seien wirtschaftlich benachteiligt, so die Anwält:innen.

„Unabhängig von den tatsächlichen Auswirkungen der kommenden Gesetze ist ein Ergebnis der heutigen Entscheidung sicher: Die Einschränkung der Rechte von Frauen und ihres Status als freie und gleichberechtigte Bürger“, schrieben Beyer, Sotomayor und Kagan in ihrer Stellungnahme. Auch viele Prominente reagieren auf die Entscheidung des Obersten Gericht zum Abtreibungsurteil „Roe v. Wade“.

Abtreibungen in den USA: Sind weitere Präzedenzfälle in Gefahr?

Gegner:innen des Urteils befürchten laut Politico auch, dass die Aufhebung von „Roe v. Wade“ eine Gefahr für andere vom Obersten Gericht festgelegte Rechte sein könnte. Im Fall „Roe“ entschied das Gericht, dass das im 14. Zusatzartikel der Verfassung garantierte Recht auf Privatsphäre die Freiheit einer schwangeren Frau schützt, selbst zu entscheiden, ob sie abtreiben will. Dieselbe Argumentation liegt bahnbrechenden gerichtlichen Entscheidungen zum Schutz der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, der Ehe zwischen POCs und weißen Menschen und dem Zugang zu Verhütungsmitteln zugrunde.

„Es eröffnete die Möglichkeit zu sagen, dass keines dieser Dinge tatsächlich in der Verfassung verankert ist. Das bedeutet, dass die Staaten im Grunde in der Lage sind, selbst zu entscheiden“, sagte Azzia Ahmed, Professorin für Recht an der University of California, Irvine, gegenüber BuzzFeed News US. „Es scheint eine Art Minderheitsregierung zu sein, bei der eine Minderheit des Landes den demokratischen Prozess einfordert, aber tatsächlich eine Reihe von Regeln aufstellt, die nur diese Minderheit will.“

In einer ergänzenden Stellungnahme am Freitag, dem 24. Juni, sagte Richter Clarence Thomas ausdrücklich, dass das Gericht nun andere Präzedenzfälle, die mit dem 14. Verfassungssatz begründet wurden, überdenken sollte. Darunter fallen Urteile über Verhütung, gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen und die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. „Da jede sachliche und ordnungsgemäße Entscheidung ‚nachweislich fehlerhaft‘ ist, haben wir die Pflicht, den in den Präzedenzfällen festgestellten ‚Irrtum‘ zu korrigieren“, schrieb Thomas und zitierte dabei Formulierungen, die er bei früheren, ähnlichen Entscheidungen verwendet hatte.

Der Fall „Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization“

Im Fall Dobbs forderte der Bundesstaat Mississippi das Oberste Gericht auf, „Roe v. Wade“ und „Planned Parenthood v. Casey“ zu kippen. Laut dieser beiden Urteile durften Beschränkungen keine „unangemessene Einschränkung“ für den Zugang zu Abtreibungen darstellen. Der Fall „Casey“ bestätigte außerdem, dass Staaten Abtreibungen nicht vor der Lebensfähigkeit des Fötus verbieten können, die in der Regel mit der 24. Schwangerschaftswoche beginnt. Die Staatsanwält:innen Mississippis hatten argumentiert, dass die Verfassung das Recht auf Abtreibungen nicht schützen würde und dass das Gericht die Staaten unfairer Weise daran hindern würde, eigene Abtreibungsvorschriften zu erlassen.

„Ein Recht auf Abtreibung ist nicht im Gesetzestext verankert“, sagte der Generalstaatsanwalt von Mississippi, Scott Stewart, bei der Verhandlung am ersten Dezember 2021. „Es beruht auf abstrakten Ideen.“ Mit dem Urteil vom Freitag haben die Richter:innen zum ersten Mal seit dem Fall „Roe“ über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes entschieden, das Abtreibungen verbietet, bevor ein Fötus lebensfähig ist. Gleichzeitig war es auch der größte Prozess zum Thema Abtreibung, seit die konservative Mehrheit mit der Bestätigung von Richterin Amy Coney Barrett im Jahr 2020 auf 6:3 angewachsen ist.

Abtreibungsgegner:innen arbeiteten jahrelang auf dieses Urteil hin

Das Urteil ist das Ergebnis jahrelanger Bemühungen von Abtreibungsgegner:innen, die, obwohl das Recht auf Abtreibungen als gesetzlich verankert galt, versuchten den Fall erneut vor das Oberste Gericht zu bringen, mit dem ausdrücklichen Ziel, Roe v. Wade zu kippen. Nachdem Donald Trump 2016 zum Präsidenten gewählt worden war (hier erzählt eine Wahlhelferin, wie Trumps Lügen ihr Leben veränderten), setzten konservative Politiker:innen und Abtreibungsgegner:innen ihren Plan in die Tat um. Sie beschlossen Abtreibungsverbote, von denen sie wussten, dass sie von den Gerichten blockiert werden würden. Sie spekulierten, dass die Gesetze schließlich vor dem höchsten Gericht der USA landen würden. Vergangenes Jahr, nach der Bestätigung der Richterin Barrett, nahm sich das Oberste Gericht schließlich dem Fall Mississippis an.

Präsident Biden kritisiert das Urteil – „Durchsetzung einer extremen Ideologie“

„Machen Sie sich nichts vor. Diese Entscheidung ist das Ergebnis jahrzehntelanger Bemühungen, unser Rechtssystem zu untergraben“, sagte Präsident Joe Biden in seiner ersten öffentlichen Äußerung zu dem Urteil am Freitag. Er war in vergangener Zeit immer wieder durch seine konsequente Haltung im Ukraine-Krieg aufgefallen – deswegen verbietet Joe Biden jetzt auch den Import von russischem Öl. Zur Entscheidung des Obersten Gerichts sagt er: „Es ist die Durchsetzung einer extremen Ideologie und in meinen Augen ein tragischer Fehler des Obersten Gerichtshofs“, kritisiert er das Urteil.

Als er einige der Konsequenzen beschrieb, die Schwangere und Ärzt:innen, die Abtreibungen anbieten, in Staaten erwarten, die Schwangerschaftsabbrüche kriminalisieren, machte Biden eine kurze Pause und schien dann von seiner vorbereiteten Rede abzuweichen. „Es macht mich einfach fassungslos“, sagt er und wies darauf hin, dass arme Menschen von dem Urteil „am härtesten“ betroffen sein werden.

Das ist grausam. Tatsächlich hat das Gericht staatliche Gesetze zur Kriminalisierung von Abtreibungen, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen, als Begründung angeführt – das Gericht wirft die USA buchstäblich 150 Jahre zurück.

US-Präsident Joe Biden

Der Präsident forderte den Kongress auf, „Roe v. Wade“ gesetzlich zu verankern und somit zu schützen, was die Regierung vor Kurzem versuchte, dabei aber letztlich scheiterte. Außerdem rief er US-Amerikaner:innen dazu auf, bei den sogenannten „Midterms“ (Zwischenwahlen) Kandidat:innen zu wählen, die das Abtreibungsrecht wiederherstellen wollen. „Ich weiß, dass viele von uns frustriert und enttäuscht sind, dass das Gericht etwas so Grundlegendes abgeschafft hat“, sagte Biden. „Diese Entscheidung darf nicht das Ende bedeuten.“

Autorin ist Stephanie K. Bear. Der Artikel erschien am 24. Juni 2022 auf buzzfeednews.com. Aus dem Englischen übersetzt von Friederike Hilz.

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