„Jin, Jiyan, Azadî“: Iranische Frauen jagen dem Regime Angst ein

Die Proteste nach dem Tod von Jina Mahsa Amini wurden brutal niedergeschlagen. Doch der Widerstand der iranischen Frauen ist ungebrochen. Es ist ein Kampf, der bereits seit Jahrzehnten andauert.
Berlin/Köln – Seit dem Tod von Jina Mahsa Amini kämpfen iranische Frauen mit einer neuen Protestbewegung für den Wandel. Darunter viele Schülerinnen, die „Tod dem Diktator“ riefen und dem Regime buchstäblich den Mittelfinger entgegenstreckten. Jetzt werden sie vergiftet. Noch sind es Mutmaßungen. Doch immer mehr Beobachter:innen nehmen an, dass die Vorfälle in Mädchenschulen in direktem Zusammenhang mit der feministischen Bewegung „Frau. Leben. Freiheit“ stehen. Seit Monaten gibt es aus Iran Berichte über Giftattacken, die sich zunehmend häufen, und das in verschiedenen Städten und Provinzen. Die betroffenen Mädchen erleiden Symptomen wie Schwindel, Übelkeit und Atemnot. Wer für die Angriffe verantwortlich ist, kann momentan niemand mit Sicherheit sagen. Erste Personen wurden jedoch verhaftet.
„Viele nehmen an, dass die Giftanschläge vom Mullah-Regime ausgehen – entweder von offiziellen Stellen oder von informellen Gruppierungen, die den Hardlinern des Regimes nahestehen“, sagt die britisch-iranische Autorin Sanam Naraghi Anderlini der Frankfurter Rundschau. Die 55-Jährige ist Gründerin der NGO International Civil Society Action Network, war UN-Beraterin zu Frauen und Konflikten und ist eine der führenden internationalen Stimmen für feministische Außenpolitik. Für sie ist klar: Entweder versagt der Staat beim Schutz seiner Bevölkerung – oder er ist mitschuldig. Ähnlich argumentiert Grünen-Europaabgeordnete Hannah Neumann gegenüber unserer Redaktion: „Wenn man weiß, wie umfassend der Unterdrückungsapparat des Regimes ist, ist schwer vorstellbar, dass diese Angriffe nicht mindestens staatlich geduldet, wenn nicht sogar gefördert werden. Der plötzliche und öffentlich vorgetragene Aufklärungseifer Ali Khameneis, Irans geistliches Oberhaupt, wirkt da doch sehr wie eine PR-Aktion.“
Iran: Der Tod von Jina Mahsa Amini löste beispiellose Proteste aus – angeführt von Frauen
Was sich in den vergangenen Monaten in Iran abspielte und nun seinen vorläufigen Höhepunkt in den Giftanschlägen auf Schulen hat, ist für Außenstehende schier unbegreiflich. Da entstand nach der Ermordung der jungen Kurdin Jina Mahsa Armini eine Protestbewegung, getragen von einer jungen Generation, die scheinbar zu allem bereit ist – und mit aller Brutalität niedergeschlagen wurde. Hunderte Menschen starben, darunter Minderjährige, Tausende Verhaftungen fanden statt, Todesurteile wurden und werden vollstreckt, und es gibt zahlreiche Berichte über sexualisierte Gewalt gegen Frauen in Gefängnissen.
Nicht wenige bezeichnen die aktuelle Bewegung als erste weibliche Revolution. Denn von Beginn an waren es Mädchen und Frauen, die die Proteste angeführt hatten und für grundlegende Menschenrechte kämpften. Die Grünen-Europaabgeordnete Neumann beobachtet die „Frau. Leben. Freiheit“-Bewegung sehr genau. Sie sagt: „Die feigen Angriffe mit Giftgas sollen jetzt Angst und Schrecken verbreiten, dafür sorgen, dass die Mädchen nicht mehr in die Schule gehen und sich vor allem nicht mehr kritisch positionieren.“
Trotz dieser besonders drastischen Ereignisse sind Protestbewegungen gegen das Regime nichts Neues. Auch nicht, dass es zurückschlägt. Seit der Islamischen Revolution 1979 kam es immer wieder zu Aufständen. Und so ist auch der Kampf um Frauenrechte in Iran nichts Neues. Doch im Gegensatz zu früheren Protesten wie 2009, als vor allem die Mittelschicht auf die Straße ging, und 2019, als gegen eine Benzinpreiserhöhung protestiert wurde, handelte es sich bei den Protesten nach dem Tod von Amini um eine heterogene Bewegung, die sich über Geschlechts-, Milieu- und Ländergrenzen hinweg vereint. Und der Protest dauert an.
Proteste in Iran
Am 16. September 2022 wird Jina Mahsa Amini in Teheran von der sogenannten Sittenpolizei verhaftet. Der Hidschāb der 22-Jährigen soll verrutscht sein. Wenige Stunden später wird sie mit schweren Kopfverletzungen in eine Klinik eingeliefert – und stirbt. Kurz darauf gehen die Menschen in Iran unter dem Motto „Frau. Leben. Freiheit“ auf die Straßen und protestieren gegen die Islamische Republik. Sie kämpfen dabei für nicht weniger als den Regierungssturz. Auch wenn die öffentlichen Proteste nachgelassen haben, dauert der Kampf für grundlegende Menschenrechte und den Wandel in Iran an. Die Wut über die Giftanschläge auf Schülerinnen führten nun in mehreren Provinzen dazu, dass Lehrer:innen und Eltern erneut öffentlich protestieren. Iranische Medien berichten laut dpa von über 3100 Vergiftungsfällen in Schulen. Offizielle Angaben dazu gibt es bislang nicht.
„Frau. Leben. Freiheit“: Eine feministische Botschaft, die das Regime nicht mehr einfangen kann
Noch immer zeigen sich Frauen ohne Hidschāb, demonstrieren, wenn auch in einem kleineren Rahmen als zu Beginn. Und das, obwohl sie geschlechtsspezifischer Gewalt seitens des Regimes ausgesetzt sind, wie Neumann schildert: „Berichte von Vergewaltigungen, gezielten Schüssen auf Gesicht, Brüste und Unterleib von Frauen zeigen, dass nicht einfach nur Protestierende abgeschreckt werden sollten, sondern gezielt Frauen und Mädchen ins Visier genommen wurden.“
Aber warum geht das Regime so brutal gegen die Bewegung „Frau. Leben. Freiheit“ vor? „Das islamische Regime ist ein stark patriarchales System. Die weibliche Unterwerfung ist zentral. Wie andere extremistische Kräfte versuchen sie, die Frauen in die traditionelle untergeordnete Rolle der Mutterschaft zu zwingen. Da sie um deren potenzielle Macht aber wissen, haben sie Angst vor Frauenbewegungen“, erklärt die Autorin Anderlini. Die Angriffe auf Mädchenschulen, die Verhaftung von Mädchen bei Protesten oder die Androhung sexueller Gewalt in der Haft seien Wege, um Mädchen und Frauen zu verängstigen und ihnen zu signalisieren: Geht zurück, geht zurück ins Haus, geht zurück in eure Rolle. Das Problem des Regimes: Die junge Generation weigert sich, nachzugeben und kämpft weiter. Für den Wandel in Iran. Für „Jin, Jiyan, Azadî“, für „Frau. Leben. Freiheit“.