SPD-Chef Klingbeil will Deutschland zur „Führungsmacht“ machen – und wird kritisiert: „Irrweg“

Mit seiner Forderung, Deutschland müsse internationale „Führungsmacht“ werden, sorgt SPD-Chef Lars Klingbeil bei einigen für Unmut.
Deutschland müsse den Anspruch einer europäischen „Führungsmacht“ erheben. Das sagte der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil am Dienstag in einer Grundsatzrede auf einer Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin. Er begründete diese Forderung mit den deutlich wachsenden Erwartungen an Deutschland weltweit. „Nach knapp 80 Jahren der Zurückhaltung hat Deutschland heute eine neue Rolle im internationalen Koordinatensystem“, zitiert ihn die dpa. Den Wortlaut der Rede gibt die SPD-Zeitung Vorwärts wieder.
Die Bundesrepublik habe sich in den vergangenen Jahrzehnten ein hohes Maß an Vertrauen erarbeitet, mit dem aber auch eine Erwartungshaltung einhergehe. „Deutschland steht immer mehr im Mittelpunkt, wir sollten diese Erwartung, die es an uns gibt, erfüllen“, sagte Klingbeil. „Deutschland muss den Anspruch einer Führungsmacht haben.“ Führung bedeute aber nicht, „breitbeinig oder rabiat“ aufzutreten, betonte er. „Führung bedeutet, sich seiner Rolle bewusst zu sein, sich nicht wegzuducken, andere einzusammeln. Nie überheblich, aber durchdacht, überzeugt und konsequent zu handeln.“
Klingbeil zieht Konsequenzen aus der von Olaf Scholz ausgerufenen „Zeitenwende“
Deutschland hat sich bisher eher als Mittelmacht und nicht als Führungsmacht in der internationalen Politik verstanden. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat mit seiner Zeitenwende-Rede nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs allerdings eine Kehrtwende in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik vollzogen und den Aufbau Deutschlands zur Militärmacht eingeleitet. Von einer Führungsmacht hat er bisher jedoch nicht gesprochen.
„Wir brauchen eine völlig andere sicherheitspolitische Debatte in Deutschland“, forderte Klingbeil laut dpa in seiner Rede vor allem mit Blick auf die osteuropäischen Bündnispartner. Das schließe auch den Umgang mit militärischer Gewalt und die Sichtweise auf den Krieg ein: „Das Verschließen der Augen vor der Realität führt zum Krieg. Das sehen wir gerade in der Ukraine. Friedenspolitik bedeutet deshalb für mich, auch militärische Gewalt als ein legitimes Mittel der Politik zu sehen.“
Klingbeils Aussage sorgt für Empörung im linken Lager
Mit seinen für linke Verhältnisse provokanten Ausführungen sorgt Klingbeil im linken Lager für Irritationen und Empörung – was er aber auch hat kommen sehen. „Ich vermute, so mancher hier im Raum ist jetzt alarmiert“, sagte er in seiner Rede vor einem zum großen Teil sozialdemokratischen Publikum. Er habe aber den Anspruch, sich den Realitäten zu stellen. Mit diesem Anspruch eckt Klingbeil bei vielen an. Auf Twitter muss er harte Kritik einstecken.
Seine Forderung, den Krieg als legitimes Mittel der Politik zu sehen, ist für viele Menschen mit einer linken Gesinnung praktisch ein politischer Sündenfall. Dierk Hierschel, der 2019 kurzzeitig selbst für den SPD-Vorsitz kandidierte, zitiert den berühmten Sozialdemokraten Willy Brandt: „Krieg darf kein Mittel der Politik sein.“
„Führungsmachtfantasien“ des SPD-Vorsitzenden?
Für den größten Unmut sorgt aber Klingbeils grundlegende Idee, Deutschland müsse als internationale „Führungsmacht“ vorangehen und „ein souveränes Europa massiv vorantreiben“. Für den Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei, Dietmar Bartsch, ergeht sich der SPD-Vorsitzende in „Führungsmachtfantasien“ und beschreitet einen „sicherheitspolitischen Irrweg“.
Andere lässt Klingbeils Forderung nach einer militärisch starken und selbstbewusst auftretenden Bundesrepublik mit Führungsanspruch an finsterste Zeiten zurückdenken, als Deutschland nahezu ganz Europa unterwarf und Millionen Menschen ermordete. Besonders die Formulierung, das man „nach 80 Jahren der Zurückhaltung“ eine neue Rolle einnehmen solle, weckt gewisse Assoziationen. Manche werfen Klingbeil „Grenzüberschreitungen“ und sogar ein Streben nach „Weltherrschaft“ vor.
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Natürlich gab es auch zustimmende Kommentare zu Klingbeils Vorstoß, unter anderem vom bekannten Sicherheitspolitik-Experten Carlo Masala. Allerdings waren diese Beiträge deutlich in der Unterzahl. Klingbeil hat sich mit seiner Rede im linken Lager nicht unbedingt Freunde gemacht.