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Gefährliche Wissenslücke: Die Medizin ignoriert bis heute die Besonderheiten von Frauen

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Von: Pia Seitler

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Frau bei einer Untersuchung beim Arzt und ein Forscher schaut in sein Stetoskop. 
Über die Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt es immer noch viel zu wenig Daten. © Panthermedia/Westend61/Imago

Deutschland hinkt bei geschlechtersensibler Forschung hinterher. Das will Gertraud Stadler ändern. Die Professorin erklärt, wieso die „Gender-Data-Gap“ in der Medizin gefährlich ist.

Frauen haben bei Operationen eine 32 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit zu sterben, wenn sie von einem Mann operiert werden. Das hat kürzlich eine Studie aus Kanada herausgefunden und das ist nur ein Beispiel von vielen, das zeigt, wie gefährlich es ist, dass die Medizin Frauen lange ignoriert und vernachlässigt hat.

It‘s a Man‘s world und das hat Tradition: Der männliche Körper gilt in der Medizin meist als Standard und bildet die Grundlage für medizinische Studien, die etwa die Verträglichkeit von neuen Medikamenten testen. In Deutschland war es lange unüblich, Unterschiede zwischen Männern und Frauen zu erforschen, sagt Gertraud Stadler, Professorin für geschlechtersensible Präventionsforschung an der Charité in Berlin, im Gespräch mit BuzzFeed Deutschland. Daher fehlen so viele Daten, die die Unterschiede zwischen Männern, Frauen und nicht-binären Personen aufzeigen, und zwar, wenn es um die Vorbeugung von Krankheiten, die Diagnose, die Behandlung und die Nachsorge gehe. „Wir sprechen von einer Geschlechter- und Diversitätsdatenlücke“, so Stadler. Diese Datenlücke ist auch bekannt als Gender-Data-Gap in der Medizin.

Daten-Lücke in der Medizin: Frauen sind nicht komplizierter

Ursachen gibt es viele. „Wir haben in der Medizin ein strukturelles Problem“, sagt die Professorin. Inzwischen studieren zwar mehr Frauen als Männer Medizin, die Leitung von Kliniken und Arbeitsgruppen sei aber immer noch in Männerhand. Untersuchungen zu Krankheiten und Therapiemöglichkeiten finden außerdem häufig ausschließlich mit männlichen Versuchstieren statt. „Man dachte immer, weibliche Versuchstiere sind aufgrund des Hormonzyklus und der Menopausen viel zu kompliziert“, erklärt die Professorin. Inzwischen sei aber bekannt, dass es auch bei männlichen Versuchstieren große Hormonunterschiede gebe. Je „komplizierter“, also je mehr sich Versuchstiere oder Proband:innen innerhalb einer Studie voneinander unterscheiden, desto größer ist der Aufwand, aussagekräftige Ergebnisse zu bekommen.

Wissenschaftler:innen versuchen deshalb, in klinischen Studien immer möglichst homogene, also ähnliche Versuchsgruppen zu untersuchen. Das geht schneller, ist günstiger und es müssen weniger Tiere und Menschen teilnehmen. Das sei zwar sinnvoll, wenn es zum Beispiel um die Giftigkeit eines Wirkstoffs gehe. Gerade bei der Anwendung von neuen Medikamenten sei es aber problematisch und „Frauen haben weiterhin mit mehr Nebenwirkungen zu kämpfen“, sagt Stadler.

In Kanada müssen Forschende bei einer Studie rechtfertigen, wenn sie nur Männer oder nur Frauen untersuchen. In Deutschland werde teilweise nicht einmal festgehalten, ob weibliche oder männliche Zellen beobachtet wurden. Es hat laut Stadler auch ewig gedauert, bis die Daten zu Covid-19 Erkrankungen nach Geschlecht aufgesplittet wurden. Dabei macht das biologische Geschlecht einen Unterschied: Bei Männern ist das Risiko eines schweren Verlaufs höher, bei jungen Frauen scheint sich ein höheres Risiko abzuzeichnen, an Long Covid zu erkranken.

Gender Data Gap in der Medizin beeinflusst das ganze Leben

Es wirke sich auf das ganze Leben aus, dass wir in Deutschland bei geschlechtersensibler Medizin hinterherhinken, so die Forscherin. Eine amerikanische Analyse von Studien fand heraus, dass bei 76 von 86 untersuchten Arzneimitteln Frauen eine erhöhte Konzentration des Wirkstoffs im Blut und eine länger Abbauzeit hatten. Und das stehe im engen Zusammenhang mit unerwünschten Nebenwirkungen. Bei hunderten von Arzneimitteln fehlen laut den Studienautor:innen Daten über Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Das könne dazu führen, dass viele Medikamente für Frauen viel zu hoch dosiert sind, schlussfolgern die Forscher:innen.

Umgekehrt konzentrieren sich Untersuchungen zur Fruchtbarkeit und Fortpflanzung bisher vor allem auf Frauen. „Wir wissen nicht, wie wir präventiv Samenqualität und -quantität sicherstellen können. Als Frau gehen sie regelmäßig zur Gynäkologin oder zum Gynäkologen. Für Männer gibt es solche auf sie zugeschnittenen Präventionsmaßnahmen nicht“, so Stadler. Und das betreffe Frauen in einer heterosexuellen Partnerschaft eben auch. Ein Herzinfarkt wurden lange Zeit bei Frauen seltener erkannt, da er mit anderen Symptomen als bei Männern einhergeht. Auch wenn sie inzwischen bei Frauen eher erkannt werden, gebe es noch keine höheren Überlebenschancen.

Das heißt, Mediziner:innen und Forscher:innen dürfen sich nicht darauf ausruhen, einen geschlechtersensiblen Schwellenwert festgesetzt zu haben. Stadler fordert, dass sich geschlechtersensible Forschung, also Forschung, die Unterschiede zwischen den Geschlechtern untersucht, durchzieht von der Vorsorge bis zur Nachsorge.

Wir müssen uns ab dem ersten Tag in der Pflege-, Hebammen - und den Gesundheitswissenschaften dieser Vielfältigkeit bewusst sein.

Gertraud Stadler, Professorin für geschlechtersensible Präventionsforschung an der Charité in Berlin

Die Professorin leitet das „Institute for Gender in Medicine“ an der Charité in Berlin, das bis jetzt immer noch das einzige Institut für Geschlechterforschung in Deutschland ist. Die Datenlücke wollen Stadler und ihr Team zuerst einmal beschreiben, da in Deutschland bisher gar nicht systematisch erhoben wurde, wo die größten Probleme liegen. Ihr Wunsch für die Zukunft? Sie würde es gerne so machen wie in Kanada: „In jeder Studie müssten dann Geschlechterunterschiede erhoben und ausgewertet werden.“ Das bedeute natürlich große Stichproben und könne nur umgesetzt werden, wenn alle Forscher:innen deutschlandweit zusammenarbeiten.

Gender Data Gap in der Forschung schließen

Aktuell beschäftigen sich Forscher:innen des Instituts damit, wie Geschlecht und andere Diversitätsaspekte in der Forschung am besten erfasst werden können. Ziel ist es, ein kurzes umfassendes Erhebungsinstrument für Diversität zu entwickeln und zu testen. Insgesamt sind 43 deutsche und internationale Expert:innen daran beteiligt. Auch das soziale Geschlecht (Gender) kann einen Einfluss darauf haben, wie wir krank wir werden. Daran forschen Wissenschaftler:innen in einem Forschungsprojekt in Österreich und Kanada*.

Das Bewusstsein und das Interesse von Studierenden in Deutschland an Geschlechterforschung steigt. Aber bis es in den hausärztlichen Praxen ankommt, ist es laut Stadler noch ein weiter Weg. „Vor allem inter- und transsexuelle Personen sind extrem unterversorgt und es gibt viel zu wenig Expertise“, sagt sie. Aussagekräftige Studien sind natürlich herausfordernder, da es weniger Personen gibt. Aber auch das lässt sich lösen, wenn sich Forscher:innen darauf konzentrieren und eng mit der Community zusammenarbeiten.*buzzfeed.at ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA

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