Deutlich mehr und heftigere Gewalt gegen queere Menschen, zeigt Bericht

„Es sind gefährliche Zeiten für queere Menschen.“ Ein Grund für die gestiegene Fallzahl könnte aber auch eine verbesserte Anzeigebereitschaft sein.
Die Gewalt gegenüber queeren Menschen nimmt kein Ende, im Gegenteil sogar, es wird wohl immer schlimmer – so prägnant lassen sich die neusten Daten der queeren Menschenrechtsorganisation ILGA Europe zusammenfassen. Die jüngsten Zahlen für 2022 zeigen, dass die Fälle von Gewalt gegenüber queeren Menschen so stark wie seit über einem Jahrzehnt nicht mehr angestiegen sind.
Ebenso dramatisch zeichnet sich die Lage beim Thema Hassreden gegenüber der LGBTQIA+-Community ab und das sowohl online wie auch im realen Leben von Politiker:innen weltweit. Besonders darunter leiden nach wie vor junge Menschen der Generation Z, die sich in Europa zu über 20 Prozent inzwischen selbst als queer definieren.
Diskriminierung von queeren Menschen „leider keine Seltenheit“
Die ILGA wirft einen genauen Blick in die einzelnen Länder – auch in Deutschland scheint sich der Trend hin zu mehr Gewalt und Hass gegenüber LGBTQIA+-Menschen weiter fortzusetzen. Das sieht auch Jürgen Lenders, der LGBTQIA+-Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion gegenüber BuzzFeed News DE so: „Gewalttaten, Übergriffe, Anfeindungen, Diskriminierungen und Benachteiligungen gegen LGBTIQ*-Personen sind sowohl im öffentlichen als auch im privaten Raum leider keine Seltenheit. Es kann auch heute noch gefährlich sein, im öffentlichen Raum als schwul, lesbisch, trans* sichtbar zu sein. Für die Betroffenen bedeutet das eine erhebliche Belastung sowie Einschränkung von Freiheit und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Das macht mich traurig und stimmt mich nachdenklich.“
Für Lenders ist klar, es gibt noch viel zu tun, gerade wenn es um rechtliche Gleichstellung, aber vor allem auch um gesellschaftliche Akzeptanz gehe. „Unsere liberale Demokratie und Freiheit sind keine Selbstverständlichkeit, wir müssen unsere offene und tolerante Gesellschaft immer wieder aufs Neue verteidigen. Hassmotivierte Straftaten zielen nicht nur auf die Menschen als Individuen, sondern zusätzlich auch darauf, ganze Bevölkerungsgruppen einzuschüchtern. Solcher Hassgewalt muss der Staat mit aller Härte entgegentreten.“
„Es sind gefährliche Zeiten für queere Menschen“
Die queer-politische Sprecherin der Linken, Kathrin Vogler, wird in ihrer Skizzierung der Lage noch konkreter im Gespräch mit BuzzFeed News DE: „Ob Putin, Bolsonaro, Orbán, Kaczyński oder Höcke. Autokraten, Rechtsextremisten und -populisten machen gerade queere Menschen für den angeblichen Verfall der Gesellschaft verantwortlich. Dadurch fühlen sich Menschen bestätigt, ihre Vorurteile auch in Gewalt auszudrücken. Es sind gefährliche Zeiten für queere Menschen. Doch jedes Land hat eine spezifische Geschichte, die wir genau betrachten müssen und wir dürfen nicht vergessen, dass dieser Hass und diese Gewalt eben auch eine Gegenbewegung sind. Queere Menschen haben in vielen Staaten der Erde enorm viel erreicht.“
Vorbildlich im Bereich der Erfassung und Dokumentation von Hasskriminalität gegenüber queeren Menschen ist die Berliner Polizei. Für die stellvertretende Pressesprecherin Anja Dierschke ist wichtig zu betonen: „Die Höhe der Fallzahlen hängt von verschiedenen Faktoren ab, darunter das tatsächliche Fallaufkommen, aber auch die Anzeigebereitschaft durch Geschädigte und Zeuginnen und Zeugen sowie die polizeiliche Erkennung und Bewertung von Straftaten als politisch motivierte Kriminalität. Darüber hinaus belegten Studien der vergangenen Jahre ein nach wie vor hohes kriminologisches Dunkelfeld, sodass ein Großteil der begangenen Straftaten nicht angezeigt und somit auch polizeilich nicht erfasst werden.“
Dabei gibt die Polizistin auch zu bedenken, dass die jüngsten Daten ähnlich wie bei Vogler auch von einer anderen Perspektive gesehen werden können: „Der in den vergangenen Jahren verzeichnete Anstieg der Fallzahlen wird vor diesem Hintergrund eher positiv bewertet und die Gründe weniger in einer tatsächlichen Steigerung der Kriminalität vermutet, als in einer Verbesserung der Anzeigebereitschaft und der polizeilichen Erkennung der spezifischen Tätermotivation“, so Dierschke gegenüber BuzzFeed News DE.
Queerfeindlichkeit muss bekämpft werden – „auch harte Strafen wirken nicht präventiv“
Fakt bleibt, die Zahlen steigen an und sie sind viel zu hoch – was lässt sich also konkret dagegen tun? „Wir wissen: Auch harte Strafen wirken nicht präventiv. Natürlich muss Hasskriminalität geahndet werden und Straftäter schnell verurteilt werden und bei der Strafzumessung muss Menschenverachtung zu einer höheren Strafe führen, hier unterstütze ich prinzipiell die von der Ampel avisierten Gesetzesänderungen“, so Vogler weiter.
Doch selbst ein besser ausgebautes Netzwerk an Ansprechpartner:innen bei Polizei und Staatsanwaltschaften allein reiche nicht aus. „Mittel- und langfristig werden wir nur Erfolg haben, wenn Queerfeindlichkeit stärker gesellschaftlich geächtet ist und queerfeindliche Einstellungen vom Stammtisch und den Schulhöfen verschwinden. Neben dem verstärkten Kampf gegen den Rechtsextremismus – auch in den Parlamenten – gilt es Aufklärung und gesellschaftliche Solidarität zu stärken.“
Hasskriminalität muss ins Strafgesetzbuch
Ähnlich sieht das auch Lenders von der Ampel-Koalition. Die Regierung habe bereits erste Maßnahmen ergriffen, doch es bedürfe nebst zeitnahen strafrechtlichen Änderungen noch deutlich mehr: „Sie allein können das Problem nicht lösen, es braucht auch nicht-rechtliche Maßnahmen, um Hasskriminalität gegen LGBTIQ*-Personen effektiver zu bekämpfen.“ Wichtig sei so außerdem, dass der Tatbestand Hasskriminalität ausdrücklich ins Strafgesetzbuch aufgenommen werde und dabei auch geschlechtsspezifische oder gegen die sexuelle Orientierung gerichtete Beweggründe aufgezählt werden. „Die Ergänzung ist nötig, weil Frauenhass, Homo- und Transfeindlichkeit bisher unter ‚sonstige menschenverachtende‘ Beweggründe abgehandelt wurden!“
Große Hoffnung hegt Lenders auch mit Blick auf den Aktionsplan „Queer leben“, dessen konkrete Finanzierung und Ausarbeitung in diesem Jahr beginnen soll. Vogler wünscht sich hier allerdings ein schnelleres Handeln seitens der Bundesregierung: „Die Geduld der Community ist endlich, die der Opposition auch. Es gibt vielversprechende Punkte im Koalitionsvertrag der Ampel, einen Queer-Beauftragten und viele Ankündigungen. Aber nach 1,5 Jahren Ampel liegen noch keine konkreten Gesetzentwürfe vor. Hier erwarte ich deutlich mehr Dampf!“
Polizei und Justiz müssen im Hinblick auf Queerfeindlichkeit besser geschult werden
Ein weiteres Thema für Lenders ist ein genauer Blick auf die Forschungslücken, die in puncto queer-feindliche Hasskriminalität bis heute bestehen. „Da der Bereich der Polizei in der Verantwortung der Bundesländer liegt, braucht es ein Bund-Länder-Programm gegen homo- und transphobe Gewalt. Polizei, Justiz und Opferschutzeinrichtungen müssen besser geschult werden und für die Problematik sensibilisiert werden. Sie müssen dazu befähigt werden, Fälle von Hasskriminalität gegen LGBTIQ*-Personen zu erkennen und diese kompetent zu bearbeiten.“
Sehr ähnlich sieht das auch Polizistin Dierschke und ergänzt: „Grundsätzlich wäre es von Vorteil, wenn alle Bundesländer die vom Bundeskriminalamt herausgegebene, deutschlandweitgültige Definition von Hasskriminalität entsprechend anwenden und in ihren Statistiken erfassen würden. Darüber hinaus wäre eine vereinheitlichte Sachbearbeitung im Bereich der queer-feindlichen Hasskriminalität sowie die Installation von Spezialdienststellen bei der Polizei und Justiz wünschenswert. Die Schaffung von hauptamtlichen Ansprechpersonen für LSBTIQ bei allen Polizeien der Bundesländer könnte ebenso ein wichtiger Schritt sein, um das Vertrauen der Gemeinschaft in die Arbeit der Polizei zu stärken und somit letztendlich auch das Anzeigeverhalten positiv zu beeinflussen.“
Taten gegenüber queeren Menschen fallen immer gewalttätiger und heftiger aus
Das eine sind die vermutlich steigenden Fallzahlen selbst, das andere ist die Qualität der Angriffe gegenüber queeren Menschen. Im Jahresbericht hält die ILGA Europe auch fest, dass die Taten immer gewalttätiger und heftiger ausfallen. „Gewaltforscher wie Andreas Zick sehen die Zunahme von Gewalt im Kontext einer individualisierten Gesellschaft. Wenn die Kluft zwischen Arm und Reich größer wird und nur noch das individuelle Aktienportfolio vor Altersarmut schützen soll, dann entschwinden die Bande von Solidarität. Diese Bande von Solidarität mit einem starken Sozialstaat einer regen Zivilgesellschaft und der Akzeptanz von Unterschiedlichkeit wieder herzustellen, wird auch Gewalt eindämmen“, so Vogler von den Linken.
Ihr Kollege Lenders von der regierenden FDP würde sich genau in dieser Frage abermals mehr Forschungsarbeit wünschen, um erst einmal „neue Erkenntnisse zu gewinnen und mehr über die Ursachen der Angriffe und Auseinandersetzungen zu erfahren. Daraus lassen sich dann starke Schutzkonzepte und praxisgerechte Präventionsangebote entwickeln.“
Was sollen queere Personen tun, wenn sie Zeug:in oder Opfer eines Angriffs werden?
Konzepte, Ideen und politische Ziele können in der Zukunft möglicherweise tatsächlich greifen und dazu beitragen, dass die Gewalt und der Hass gegenüber queeren Menschen sinken. Doch was sollen Schwule, Lesben oder trans* Personen tun, wenn sie Zeug:in oder Opfer eines Angriffs werden?
Noch immer ist die LGBTQIA+-Community in ganz Deutschland geschockt von dem grausamen Tod des trans* Mannes Malte C., der beim CSD Münster im vergangenen August Zivilcourage zeigte, einen Streit schlichten wollte und schlussendlich selbst niedergeschlagen wurde – sechs Tage später verstarb der 25-jährige trans* Mann aufgrund eines Schädel-Hirn-Traumas im Krankenhaus. Der mutmaßliche Täter muss sich derzeit vor dem Landgericht Münster wegen Körperverletzung mit Todesfolge verantworten, ein Urteil wird im April erwartet.
„Malte starb, weil er Zivilcourage zeigte“
„Malte starb, weil er Zivilcourage zeigte. Die Situation eskalierte unvorhergesehen. Zunächst ist es immer wichtig, dass Menschen sich nicht selbst gefährden, schnell Hilfe rufen und umgehend die Polizei verständigen. Die Polizei ist heute eine andere als früher, aber da gibt es auch noch Luft nach oben in vielen Regionen Deutschlands“, so Vogler weiter. Und Lenders ergänzt: „Auf keinen Fall darf man die eigene Gesundheit aufs Spiel setzen oder sich selbst in Gefahr bringen. Das Mindeste, was man tun kann, ist die Polizei zu rufen. Es ist wichtig etwas zu tun und sich einzumischen. Manchmal kann schon ein lautes Wort oder eine Geste dazu beitragen, um den Täter einzuschüchtern oder von seinem Vorhaben abzubringen. Man kann einem Opfer Hilfe anbieten, indem man zum Beispiel sagt, komm sitz bei uns in der Gruppe. Wenn die Möglichkeit besteht, sollte man versuchen, andere zum Helfen zu animieren.“
Zeug:innen von Gewaltvorfällen können andere Personen animieren, zu helfen
Anja Dierschke von der Berliner Polizei rät Zeug:innen von Gewaltvorfällen, möglichst deeskalierend und waffenlos vorzugehen, um sich selbst und andere Personen nicht zusätzlich zu gefährden, dabei möglichst außerhalb der Schlag- und Trittreichweite zu bleiben, sich Tätermerkmale wie das Aussehen oder die Sprache einzuprägen und schnell Hilfe zu holen.
Auch Lenders Idee, andere Personen zu animieren zu helfen und eine schützende Gruppe zu bilden, hält die Expertin für sinnvoll. „Ist jemand erkennbar in einer unangenehmen oder sogar gefährlichen Situation, kann man am besten zusammen mit einer Helfergruppe versuchen, die betroffene Person aus der Situation herauszuholen. Dabei spricht man nur mit dem Opfer und ignoriert mögliche verbale Angriffe der Täterin oder des Täters konsequent.“
Ziel der Hilfeleistung sollte in erster Linie dabei stets die Verhinderung oder Unterbrechung von Gewalttaten sein. Nach Alarmierung der Polizei ist es auch sinnvoll, die Täter:innen genau darauf hinzuweisen und beispielsweise laut zu rufen: „Aufhören, die Polizei ist gleich da!“. Flüchtende tatverdächtige Personen sollte man dabei nicht aufhalten. „Um selbst nicht Opfer einer Gewalttat zu werden, ist es vor allem wichtig, sich nicht provozieren zu lassen und wenn man nicht ausweichen kann, andere lautstark auf die Situation aufmerksam zu machen und konkret um Hilfe zu bitten“, so Dierschke weiter. Schlussendlich bringt Lenders den Kernaspekt gegenüber BuzzFeed News DE so auf den Punkt: „Wir müssen verhindern, dass die Menschen gleichgültig und bequem werden und sie das Schicksal von anderen Menschen nicht interessiert. Denn Gewalt in der Gesellschaft geht uns alle an.“