Wissenslücken zum Holocaust bei jungen Menschen – Expertin sieht „strukturelles Problem“
Vielen jungen Menschen ist das Ausmaß des Holocaust nicht bewusst. Für eine Expertin ist das Ergebnis jahrzehntelangen „toxischen Schweigens“.
23 Prozent der Niederländer:innen zwischen 18 und 40 Jahren halten den Holocaust für einen Mythos oder zumindest die Opferzahlen für stark übertrieben. Das ist das Ergebnis einer im Januar veröffentlichten Studie der Claims Conference. Eine ähnlich gelagerte Studie der Universität Bielefeld offenbart vergleichbare Wissenslücken bei jungen Menschen in Deutschland über den Nationalsozialismus und dessen Verbrechen. Etwa die Hälfte der befragten 16- bis 25-Jährigen konnte nicht einmal genau angeben, in welchen Jahren sich die NS-Geschichte eigentlich zugetragen hat.
Expertin ist von Befunden der Studien nicht überrascht
Besonders die Studie aus den Niederlanden sorgte für Aufsehen. Das Ausmaß an Unwissen und Verleugnung des Holocausts war dort größer als in anderen von der Claims Conference zuvor untersuchten Ländern. Marina Chernivsky vom Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment überraschen die Ergebnisse der beiden Studien nicht. Die Psychologin sieht eine gewisse Kontinuität auch in Deutschland, was das mangelnde Wissen junger Menschen über den Holocaust und Defizite in der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit angeht.

Gegenüber BuzzFeed News DE erklärt sie: Es geht eben nicht um die Geschichte des Widerstands oder einer erfolgreichen Revolution, sondern um die Geschichte eines Völkermordes beziehungsweise der niederländischen Kollaboration mit den Nazis. Und damit um die Geschichte eines „kollektiven Versagens“. Die Rufe nach einer besseren Holocaust-Erziehung in den Schulen greifen ihrer Meinung nach zu kurz.
„Viele deutsche Familien können sehr viel über das Schweigen erzählen.“
„Der Umgang vor allem mit einer negativen Geschichte hat bestimmte Voraussetzungen. Und diese müssen erfüllt sein, damit Menschen in der dritten, vierten Generation in der Lage sind, ein reflektiertes Geschichtsbild zu entwickeln und sich dieses Wissen nicht nur formal anzueignen, sondern auch emotional wie biografisch zuzulassen.“ Das sei keine Selbstverständlichkeit, sondern müsse aktiv erarbeitet werden. Die Auslagerung dieser Erinnerungsarbeit auf die Schule, auf Gedenkstätten, Museen und ähnliche Einrichtungen sei aber nicht genug.
Das eigentliche Problem sei nämlich nicht nur das mangelnde historische Faktenwissen. Vielmehr fehle es an der Fähigkeit, „diese Geschichte mit sich zu verbinden.“ Die Geschichte des NS sei zugleich auch Teil der Gegenwart. Sie werde auf beiden Seiten von Generation zu Generation weitergegeben, „in Form von Schweigen oder in Form von Leiden.“ Die Aufarbeitung des NS auf Familienebene auf Seiten der Täter sei von Verdrängung geprägt. „Viele deutsche Familien können sehr viel über das Schweigen erzählen.“
Wichtigster Erinnerungsort für die Nachkommen der Täter ist die eigene Familie
Die Täter von damals hätten nach dem Krieg für sich das Privileg in Anspruch genommen, ihre Verwicklung mit dem NS zu verdrängen. Und dieses Verdrängen setze sich innerhalb der Familien bis heute fort. Die historische Aufarbeitung werde etwa an die Schulen delegiert, wo die Weitergabe des Wissens oftmals von einer „erstarrten erinnerungskulturellen Praxis“ geprägt sei, die das kollektive Versagen in den Blick nehme. Dabei sei der eigentlich naheliegende Erinnerungsort für diese Geschichte vor allem das nahe Umfeld der Familie.
Im Umfeld der Familie entwickle der einzelne Mensch einen ersten Zugang zur Vergangenheit. „Um zu wissen, woher wir kommen und wohin wir gehen, brauchen wir die Vorstellung der Generation vor uns und die der Generation nach uns. Wenn wir die Geschichte der anderen erzählen, diese aber nicht mit uns verbinden, obwohl wir über die Generationen eng mit ihr verflochten sind, kommt es zu einer Kluft zwischen individueller und kollektiver Erzählung.“
Die Rede Alexander Gaulands von der NS-Zeit als „Vogelschiss“ macht deutlich, wohin diese Kluft führen kann.
Expertin sieht neben „sehr dürftigem“ Faktenwissen auch ein „strukturelles Problem“
Die Geschichte etwa der NS-Opfer werde so nur formal in Form von Faktenwissen als die Geschichte von Fremden angeeignet. Und selbst dieses Faktenwissen sei nur „sehr dürftig“, ergänzt Chernivsky. Sie sieht darin ein „strukturelles Problem“ und einen grundlegenden Fehler in der Erinnerungspolitik: Reines Faktenwissen reiche eben nicht, um die Menschen zur Erkenntnis zu bringen, dass die NS-Vergangenheit mit ihren Folgen bis in die heutige Zeit hineinwirkt, vor allem innerhalb der Familien.
„Das ist, was uns nun buchstäblich auf die Füße fällt, in den Niederlanden wie auch in Deutschland“, resümiert die Psychologin.
Interesse für die Geschichte ist vorhanden – „toxisches Schweigen“ kann überwunden werden
Chernivsky beobachtet aber zugleich auch ein wachsendes Interesse junger Menschen an Geschichte, das auch ernstzunehmen ist. Denselben Befund machen auch die eingangs zitierten Studien aus den Niederlanden und Deutschland, in denen sich jeweils eine klare Mehrheit von 62 beziehungsweise 75 Prozent für eine bessere Wissensvermittlung zu dem Thema aussprach.
Es gebe also Potenzial, die Situation zu verbessern, betont Chernivsky. Allerdings brauche es eine „radikale Veränderung“ in der Erinnerungskultur und Geschichtsvermittlung, die die Geschichte nicht als etwas Abgeschlossenes betrachtet. Gerade jungen Menschen müsse Geschichte als etwas Identitätsstiftendes nahegebracht werden. Darin liege eine große Chance, denn mit wachsender zeitlicher Distanz werde es einfacher, sich von dem „toxischen Schweigen zu lösen“, das über Jahrzehnte gesellschaftlich weitergegeben worden ist.
Was passieren kann, wenn das Bewusstsein für die Verbrechen des NS fehlt, zeigen solche Vorfälle: Unbekannte schänden KZ-Gedenkstätten, leider nicht zum ersten Mal.