Homosexueller Afghane berichtet von Flucht und Folter –„Warum helft ihr nicht?“

Einem 20-jährigen Afghanen gelingt die Flucht nach Deutschland. In Afghanistan fürchtete er von den Taliban umgebracht zu werden. Seine Familie befinde sich immer noch in Lebensgefahr.
Die dramatische Lage von LGBTQIA+-Afghan:innen wird von Tag zu Tag schlimmer. Für Organisationen wie dem Lesben- und Schwulenverband Deutschland oder dem queeren Verein Rat und Tat in Bremen ist es nur noch eine Frage von Wochen, bis die letzten queeren Menschen in Afghanistan auf grausamste Weise getötet worden sind. Wie dramatisch die Situation vor Ort ist, erklärte jetzt auch der schwule, 20-jährige Afghane Shariyar Mandegar* gegenüber BuzzFeed News von Ippen.Media.
Mandegar bemerkte bereits als Teenager, dass er homosexuell ist und hatte mit fünfzehn Jahren seine erste heimliche Beziehung. Vor etwas mehr als einem Jahr bereitete er sich auf die Aufnahmeprüfung an der Hochschule vor, als die Taliban im August 2021 nach dem schnellen Rückzug der USA und ihren Bündnispartnern die Stadt Herat einnahmen. „Vor der Machtübernahme durch die Taliban lebte die afghanische LGBTQIA+-Community zwar auch in Angst vor den religiösen Fundamentalisten, aber wir konnten existieren. Unter dem Taliban-Regime ist dies nicht mehr möglich!“
Queere Menschen fliehen vor der Taliban aus Afghanistan
Viele Freunde von Mandegar verstecken sich seitdem vor den Taliban oder versuchten, das Land zu verlassen. Er erlebte, wie gute Freund:innen von den Taliban auf die Todeslisten gesetzt wurden und von einem Tag auf den anderen verschwanden. Schließlich waren sie auch hinter ihm her. Nur mit finanzieller Hilfe von seiner Familie und Freunden schaffte er es schlussendlich illegal über die Grenze in den Iran.
„Wir waren insgesamt 200 Personen, als wir in Richtung Iran aufbrachen. Aber nicht alle von uns schafften es auf die andere Seite. Ich habe mich in den Kofferraum eines Autos geflüchtet. Dort musste ich stundenlang zusammengekauert ausharren.“ Anschließend flüchtete er weiter, bis er schlussendlich in Deutschland angekommen war.
Noch heute belasten ihn die Gedanken an diese Flucht: „Ich leide bis heute unter Depressionen und habe Phasen, in denen ich keine Hoffnung mehr habe, aber ich kann nie aufhören, mich für meine Sache einzusetzen.“ Zusammen mit dem queeren Verein in Bremen steht er heute im täglichen Kontakt mit hunderten LGBTQIA+-Afghan:innen und versucht ihnen zu helfen. Und er leitet die Plattform Rainbow Afghanistan. Zusammen mit dem Bremer Verein hat er inzwischen über 200 Anträge von Afghan:innen beim Auswärtigen Amt eingereicht.
Taliban foltern Familien mit LGBTQIA+-Kindern, berichtet geflüchteter Afghane
Was nach einem Happy End klingen mag, ist bisher keines, denn Mandegars Familie befindet sich nach wie vor in Lebensgefahr, weswegen er hier nicht mit seinem wirklichen Namen auftritt. Seine ganze Familie ist derzeit innerhalb Afghanistans auf der Flucht, ein Bruder sitzt in Pakistan fest. Es passiert in diesen Tagen sehr oft, dass die Taliban Mitglieder einer Familie grausam foltern, bis diese den vermeintlichen Aufenthaltsort des LGBTQIA+-Kindes bekannt geben.
„Es besteht die reale Gefahr, dass sie meine Eltern und Geschwister der Reihe nach zu Tode foltern werden, auch die kleinen Kinder meiner Brüder. Damit wollen sie mich unter Druck setzen, nach Afghanistan zurückzukehren.“ Das Auswärtige Amt hat trotz der ausführlichen Schilderung der Sachlage bisher nicht über den Aufnahmeantrag von Mandegar entschieden. Der junge Afghane selbst konzentriert sich darauf, neben den LGBTQIA+-Menschen vor Ort auch seiner Familie zu helfen.
Queere Afghan:innen enttäuscht von der Politik und bürokratischen Aufnahmeverfahren
Enttäuscht von der aktuellen Situation ist nicht nur Mandegar, sondern so ziemlich alle, mit denen er tagtäglich spricht. Die Schilderungen sind grausam und kaum zu ertragen und alle fragen sich, warum die Welt offenbar relativ teilnahmslos zusieht. Die Bundesregierung hat zwar nach 14 Monaten Stillstand jüngst erklärt, monatlich 1000 Afghan:innen aufnehmen zu wollen, doch dürfte sich das Aufnahmeverfahren, welches zwei Ministerien durchlaufen muss und als Grundvoraussetzung eine Beweispflicht ob der Gefährdungslage eines jeden einzelnen LGBTQIA+-Menschen vorsieht, über Wochen hinziehen.
Zudem dürfte nur ein sehr kleiner Teil der vergebenen Visa überhaupt an queere Personen gehen. Die Bürokratie der Bundesrepublik spielt dabei ganz augenscheinlich mit dem Leben queerer Menschen in Afghanistan.
Die Vereinten Nationen und die internationale Gemeinschaft ignorieren die, von den Taliban begangenen Gräueltaten. Die LGBTQIA+-Community hat inzwischen die Hoffnung auf eine Zukunft verloren, sie werden regelrecht abgeschlachtet. Solange die Taliban an der Macht sind, haben afghanische LGBTQIA+-Personen keine Zukunft.
„Die LGBTQIA+-Bevölkerung Afghanistans ist mehr gefährdet als alle anderen marginalisierten Gruppen zusammen“
Was der junge schwule Afghane erlebt hat, können viele andere LGBTQIA+-Menschen vor Ort bestätigen. Sie wurden oftmals von den eigenen Familienmitglieder:innen geschlagen, festgekettet, gefoltert und mit dem Tode bedroht. Ein junger Mann, der Kontakt zum Bremer Verein hat, erklärte so: „Im Alter von dreizehn Jahren wurde ich von mehreren Personen vergewaltigt. Das war die schlimmste Zeit meines Lebens. Unbekannte Männer haben mich zehn Tage lang immer wieder vergewaltigt.“ Die Geschichten gleichen sich auch hier, sobald bei einem Jugendlichen oder Kind etwas entdeckt wird, das abseits der Norm liegt – das kann bereits ein farbiges Kleidungsstück sein – wird es zum Freiwild; zum einen, um als sexuelle Befriedigung zu dienen, zum anderen als eine Art Strafe Gottes. Besonders stark davon sind derzeit homosexuelle Männer und Trans*-Personen betroffen.
„Die LGBTQIA+-Bevölkerung Afghanistans ist mehr gefährdet als alle anderen marginalisierten Gruppen zusammen und täglich Ziel von Gewalt aus allen Richtungen“, so Mandegar weiter, der von den Menschen vor Ort zudem erfährt, dass die Situation sich immer mehr zuspitze: „Seit sechs Monaten haben die Taliban in Afghanistan spezielle Gefängnisse errichtet, in denen sie alle LGBTQIA+-Personen foltern und einer Gehirnwäsche unterziehen, bevor sie sie auf die grausamste Weise umbringen. Es liegen Berichte aus den Provinzen Kabul, Herat, Mazar-e Sharif, Baghlan und anderen vor. Diejenigen, die versuchen zu fliehen, werden meistens bei dem Versuch, die Grenze zu überqueren, getötet. Diese Ausweglosigkeit sorgt dafür, dass immer mehr von ihnen Selbstmord begehen.“
Taliban seien „schlimmer als jemals zuvor“
Zornig zeigen sich viele LGBTQIA+-Afghan:innen demnach auch darüber, dass einige Politiker:innen in Europa immer wieder erklären, man könne mit den Taliban vernünftig verhandeln. „Einige Narren glauben, dass sich die Taliban geändert haben. In Wirklichkeit leben LGBTQIA+-Personen unter der Herrschaft einer Gruppe, die glaubt, dass queere Personen den Tod verdienen und dass ihre Tötung eine Form der Belohnung ist. Das ist einfach nur absurd und ein Irrglauben. Die Taliban haben sich nicht positiv verändert, sondern sie sind schlimmer als jemals zuvor.“
Im Namen der LGBTQIA+-Afghan:innen vor Ort bittet Mandegar abschließend: „Ich flehe die Vereinten Nationen, die internationale Gemeinschaft und insbesondere die deutsche Bundesregierung an, dringend humanitäre Maßnahmen zu ergreifen, bevor es zu spät ist. Jede Verzögerung, jeder Tag, jede Stunde führt zu weiterem Leid. Immer mehr LGBTQIA+-Menschen verschwinden inzwischen von einem Tag auf den anderen spurlos. Warum helft ihr nicht?“
*Shariyar Mandegar heißt in Wirklichkeit anders. Um ihn zu schützen, nennen wir seinen Namen nicht. Sein voller Name ist der Redaktion bekannt.