„Ich bin entsetzt“: Humboldt-Uni sagt transfeindlichen Vortrag ab – seitdem brennt Twitter

MEINUNG
Ein abgesagter Vortrag über Zweigeschlechtlichkeit erhitzt die Gemüter. Die Diskussion macht deutlich, wie viel Nachholbedarf die Gesellschaft noch hat.
Seit einiger Zeit wird in Deutschland und anderen westlichen Ländern vermehrt über die Rechte trans- und intersexueller Menschen diskutiert. Geprägt wird dieser Diskurs zu weiten Teilen von reaktionären Narrativen, die durch etablierte Medien an Reichweite gewinnen. Der Anfang Juni in der WELT veröffentlichte, absurde Vorwurf an ARD und ZDF, mit Transgender-Themen „Kinder zu sexualisieren“, ist ein gutes Beispiel für diese bedenkliche Entwicklung.
Am vergangenen Wochenende erfuhr diese von Vorurteilen und purer Unwissenheit geprägte Debatte einen neuen Höhepunkt. Was war geschehen? Für Samstag, den 2. Juni, war im Rahmen der „Langen Nacht der Wissenschaften“ im Hauptgebäude der Berliner Humboldt-Universität (HU) ein Vortrag der Biologie-Doktorandin Marie-Luise Vollbrecht geplant. Dessen Thema lautete „Geschlecht ist nicht gleich Geschlecht. Sex, Gender und warum es in der Biologie nur zwei Geschlechter gibt“ und sorgte im Vorfeld für viel Unmut.
Mehrere Studierendengruppen, darunter der „Arbeitskreis kritischer Jurist*innen“, protestierten gegen diesen Vortrag. Ihr zentraler Vorwurf: Vollbrechts These, es gäbe in der Natur und damit auch beim Menschen ausschließlich zwei Geschlechter, sei unwissenschaftlich, menschenverachtend sowie queer- und transfeindlich. Sie kündigten Proteste vor dem HU-Gebäude an. Die Leitung der HU beschloss daraufhin den Vortrag kurzfristig abzusagen, angeblich wegen Sicherheitsbedenken, wie der rbb am Sonntag berichtete.
Twitter offenbart viel Unwissenheit über Geschlechtlichkeit
Als das Thema schließlich Twitter erreicht hatte, setzte eine hitzige Debatte über diese Ereignisse ein, die zu einer Grundsatzdiskussion über das Reizthema Trans- und Intersexualität wurde – und zu einer nicht endlos sprudelnden Quelle von Unwissenheit, Gleichgültigkeit und Hass.
Bis zum Montag dominierten die Hashtags #MarieHatRecht und #HumboldtUni die Twitter-Trends. Es zeigte sich, dass sehr viele Menschen sich nicht vorstellen können oder wollen, dass das Thema der biologischen Geschlechtlichkeit komplexer ist, als es uns aus der allgemeinen Lebenserfahrung heraus vorkommt. Man zeigte sich „entsetzt“ darüber, dass es Menschen gibt, die an der „biologischen Zweigeschlechtlichkeit“ zweifeln, und stellte diese Haltung als anmaßend und unwissenschaftlich dar. Die binäre Zweigeschlechtlichkeit, das heiß die saubere Trennung zwischen männlich und weiblich, sei in der Biologie unumstritten.
Manche gingen in ihrer Unwissenheit so weit, Vollbrechts Kritiker*innen vorzuwerfen, sie würden die Evolutuinstheorie anzweifeln. Ein Vorwurf, der darauf fußt, dass der kritisierte Vortrag das Thema Geschlechtlichkeit im Rahmen von deren evolutionärer Entwicklung behandelt. Demnächst würden auch Menschen „gesteinigt“, die das heliozentrische Weltbild vertreten.
Es kam sogar der Trend auf, seinen Account mit einem Kiwi-Icon zu schmücken, um sich als Anhänger der Zweigeschlechtlichkeit zu erkennen zu geben. „Wenn ihr wisst, dass es nur zwei Geschlechter gibt, packt eine Kiwi in eure Bio oder Namen“, lautete die Devise. Angeblich eine Anspielung auf den Inhalt des Vortrags, der später auf YouTube gestreamt wurde. Twitter-Nutzer merkten an, dass der eigentliche Ursprung dieses Symbols in den toxischen Internetabgründen von Imageboards wie 4chan zu suchen ist.
Ein hochkomplexes Thema, über das nur Fachleute dozieren sollten
Tatsächlich ist die Frage, was Geschlechter eigentlich sind, komplexer als sich die meisten vorstellen. Abgesehen davon, dass es sich beim Kulturwesen Mensch ohnehin anders verhält als Im Tierreich, auf das sich Vollbrechts Vortrag beschränkt. Das Thema Gender spielt dort überhaupt keine Rolle, während es in den heutigen Debatten im Mittelpunkt steht. Vom Gender unabhängig betrachtet wird das biologische Geschlecht (Sex), das beim Menschen ein weites Spektrum „vielfältiger Ausprägungen von Geschlechtlichkeit“ umfasst, wie es spektrum.de erklärt.
Für besonders viel Kritik an Vollbrecht sorgte die Tatsache, dass sie Meeresbiologin ist und gar nicht zum Themenkomplex der Geschlechtlichkeit bzw. Sex und Gender beim Menschen forscht. Der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch merkte dazu an, dass die „Lange Nacht der Wissenschaften“ gar nicht der richtige Ort für einen solchen Vortrag sei. Die LNDW sei dazu da, Wissenschaftler:innen eine Bühne zu geben, um die eigene Forschung der Allgemeinheit nahezubringen.
Auch an der fachlichen Seriosität von Vollbrecht wurden Zweifel angemeldet. Auch und gerade das Thema der Geschlechtlichkeit im Tierreich ist hochkomplex und nicht so binär, wie es Vollbrecht in ihrem Vortrag darstellt. Für Laien allerdings nur schwer zu durchdringen.
Diskurs über trans* Rechte ist Einfallstor für rechtsradikale Akteure
Was die Diskussion um Vollbrechts Vortrag neben sehr viel Unwissenheit auch ans Licht bringt: Rechte Diskurse sind mittlerweile weit in die Gesellschaft vorgedrungen. Die Empörung über die angeblich durch „linke Chaoten“ bedrohte Wissenschaftsfreiheit wird gezielt von rechtsradikale Akteuren angeheizt. Das Bedenkliche ist, dass diese „reaktionäre Empörung“ von etablierten Medien aufgegriffen und vorbehaltlos in diesem Sinne geframt wird. Das ist letztlich das Ziel rechter Metapolitik, wie ein ein kluger Beobachter auf Twitter anmerkt. Ähnlich argumentiert auch Tessa Ganserer in einem Interview mit BuzzFeed News Deutschland über trans* Rechte.