„Krank und dissozial“: Warum kleine Familien für Kinder problematisch sein können

In Deutschland leben immer seltener mehrere Generationen unter einem Dach. Dabei bergen Großfamilien für ihre Mitglieder viele Chancen.
von Elias Jakob
Ich sitze jeden Tag mit meiner Schwester, meinen Eltern, meinem Onkel und meiner Oma beim Abendessen. „Wie war’s auf der Arbeit?“, „Hattest du Spaß beim Sport, Oma?“ oder „Was habt ihr morgen vor?“ fragen wir uns. Wir wissen, dass diese Lebensform in Deutschland selten geworden ist. So zu wohnen, finden wir lustig, manchmal aber auch lästig. Ist unser Familienmodell vom Aussterben bedroht?
Wenn du das Wort Großfamilie liest, denkst du vielleicht an die Wollnys. Einerseits bezeichnet man kinderreiche Familien, also Eltern mit drei oder mehr Kindern, als Großfamilien. Andererseits versteht man darunter auch Mehrgenerationenhaushalte ab drei Generationen, zum Beispiel: Kinder – Eltern – Großeltern. Das ist bei mir zu Hause der Fall. Wir wohnen zu sechst in einem Haus in Brandenburg.
Wie häufig leben in Deutschland mehrere Generationen unter einem Dach?
Der Berliner Familientherapeut und Soziologe Roger Genée schätzt diese Art des Zusammenlebens als sehr selten ein: „Die Großeltern leben meist untergebracht. Im urbanen Raum gibt es meist keine ausreichend großen Wohnungen mehr, da diese kaum noch zu bezahlen sind. Auf dem Land finden andere tradierte Familienmuster Platz, etwa bäuerliche Gemeinschaften.“ Okay, als Bauernfamilie würde ich uns zu Hause jetzt nicht einstufen.
In Deutschland sind Mehrgenerationenhaushalte schon lange eher selten. 1972 machten Drei-Generationen-Haushalte etwa drei Prozent aller westdeutschen Haushalte aus. Mittlerweile leben laut dem Mikrozensus aus dem Jahr 2019 in etwa 0,5 Prozent der deutschen Haushalte drei Generationen zusammen. Insgesamt gab es deutschlandweit rund 41 Millionen Haushalte, darunter waren zuletzt 211.000 Drei-Generationen-Haushalte.
Kinder aus großen Familien sind „resistenter“
Eine Auswertung des Statistischen Bundesamts zeigt, dass besonders junge Menschen mit höherer Wahrscheinlichkeit in Drei-Generationen-Haushalten leben. Aber was macht das mit den Kindern? „Meist haben die Kinder eine ausgeprägte soziale Kompetenz und sind wesentlich selbstständiger“, sagt Familientherapeut Genée.
Heißt das, wer in einer Großfamilie aufwächst, ist selbstloser oder durchsetzungsfähiger? Genée hat dazu eine klare Einschätzung: „Wenn man mehr Menschen um sich herum gewöhnt ist, kann man auch besser mit ihnen umgehen und ist resistenter gegen ,Überforderung‘ durch Menschen. Und man kann sich vermutlich besser um benachteiligte Menschen kümmern. Sie haben vermutlich mehr Kraft für ihre Mitmenschen.“
Zusammenhalt in Großfamilien – „man lernt Verantwortung, Organisation und Fürsorge“
Mit vielen Menschen im Haushalt aufzuwachsen heißt auch, viel Liebe zu verspüren. Vor allem Eltern, die eine Großfamilie „gründen“, würden das spüren: „Es ist sehr erfüllend für mehrere Kinder da zu sein, man lernt Verantwortung, Organisation und Fürsorge“, sagt der Berliner Familientherapeut. Und wer mit mehreren Geschwistern aufwachse, habe später oftmals auch mehr eigene Kinder.
Der Zusammenhalt ist ein wichtiger Faktor. Gerade, wenn Großeltern mit im Haushalt leben. Viele wollen nicht ins Altersheim. Daher ist dieses Konzept, bei dem mehrere Generationen zusammenwohnen, für viele eine gute Lösung. Durch die familiäre Unterstützung findet soziale Interaktion statt und Ältere sind weniger einsam. Zudem profitieren beide Seiten: Die Großeltern werden betreut und können wiederum auf die Kinder aufpassen.
Herausforderungen bleiben: In einer großen Familie braucht es viel Disziplin
Immer wieder raten Psycholog:innen, die gemeinsame Zeit mit der Familie optimal zu nutzen. Miteinander viel reden und lachen. Das stärkt die soziale Verbundenheit. Und die kommt in einer Großfamilie besonders zur Geltung, wenn alle gemeinsam essen – täglich. Dafür brauche es viel Disziplin und traditionelle, interne Familienpolitik mit Regeln, sagt Soziologe Genée. „Feste Zeiten und Struktur fördern die Kommunikation und den Austausch untereinander. Gemeinsames Essen kann als Plenum genutzt werden“, so Genée weiter. In Form eines Rituals könne es auch stärkend sein, sowohl emotional als auch sozial.
Aber wie in jedem Familienmodell gibt es auch in Großfamilien Probleme und Herausforderungen. Vor allem, wenn innerhalb der Verwandtschaft ein Konkurrenzkampf besteht. Kommt es dann zu Streit, ist es in großen Familien nicht so leicht, sich aus dem Weg zu gehen. Streit sei sehr wichtig, betont Genée. „Durch die vielen Familienmitglieder werden soziales Handeln und kommunikative Fertigkeiten leichter erlernt, schon im frühen Kindesalter.“
„Der Trend zur Vereinzelung und zu Kleinstfamilien macht eher krank und dissozial.“
Das Konzept Großfamilie ist somit vielleicht bald Geschichte, aber die Mitglieder gehen überwiegend gestärkt aus ihnen heraus: Fester Zusammenhalt, soziale Kompetenzen von klein auf und gegenseitige Unterstützung. Familientherapeut Genée findet: „Der Trend zur Vereinzelung und zu Kleinstfamilien macht eher krank und dissozial.“