Depression und Suizidgedanken: Corona belastet queere Jugendliche besonders - ein Beratungsteam will helfen

Die Corona-Pandemie hat den Alltag vieler Menschen auf den Kopf gestellt. Besonders queere Jugendliche belastet die nun mehr als zwei Jahre andauernde Situation besonders.
Trotz Freedom Day und Lockerungen ist die Pandemie noch nicht vorbei – und es gilt zu befürchten, dass der kommende Herbst abermals Beschränkungen mit sich bringt. Eine vulnerable Gruppe sind dabei auch queere Jugendliche vor und während dem Coming-out. Die Pandemie hat in den vergangenen zwei Jahren ihre Probleme verstärkt, Depressionen und auch suizidale Gedanken gehören immer mehr zum Alltag von LGBTQIA+-Jugendlichen – depressive Verstimmungen stiegen um rund 67 Prozent an, ein selbstverletzendes Verhalten um rund 18 Prozent (Quelle: anyway Köln).
Seit 2006 bietet der „Coming-Out-Day“-Verein in Köln bundesweit via E-Mail Beratungen für queere Jugendliche an. Seit kurzem können sich Queers nun auch über einen hauseigenen kostenlosen Messenger-Dienst direkt mit den zwölf Berater:innen unterhalten. Das Durchschnittsalter der meisten queeren Anrufer:innen ist dabei in den letzten Jahren gesunken, die Probleme und Ängste erreichen auch immer mehr Jüngere ab 14 Jahren. Buzzfeed News Deutschland sprach mit Vereinsvorstand Sven Norenkemper über die aktuelle Situation.

Die ganze Bandbreite von queeren Jugendlichen meldet sich bei den 12 Berater:innen des Vereins. Hat sich denn an den Anfragen in den vergangenen Jahren etwas verändert?
Der trans-Bereich hat sehr zugenommen in den letzten Jahren. Inzwischen ist es so, dass sich etwa ein Drittel aller Anfragen im Bereich trans und nicht-binär einordnen lässt. Das ist ein großes Thema, gerade unter den Jüngeren im Alter von 14 bis 15 Jahren. Die restlichen 70 Prozent aller Anfragen teilen sich dann ziemlich genau in schwul und lesbisch auf. Obwohl man aber auch festhalten muss, dass die einfachen Kategorisierungen nicht mehr so gut funktionieren. Früher gab es zumeist lesbisch, schwul und vielleicht noch bisexuell. Da sind inzwischen sehr viel weitere Identitäten dazugekommen. Die gab es sicherlich so auch früher bereits, aber sie erfahren jetzt erst eine gewisse Sichtbarkeit. Und erst dadurch trauen sich auch die Jugendlichen, mit diesen Punkten stärker nach draußen zu gehen und darüber zu sprechen. Das ist eine sehr junge Entwicklung, dafür aber eine, die in den letzten Jahren an Fahrt aufgenommen hat.
In der jungen Generation Z definieren sich bis zu 20 Prozent der Jugendlichen als queer. Immer wieder heißt es dazu, die Jugendlichen würden nur einem Trend nachlaufen. Wie erleben Sie das?
Wir haben noch nie einen Fall gehabt, wo eine Person, die bei uns angerufen hat, später für sich festgestellt hat: Ist doch alles nur Einbildung. Die Jugendlichen sind sich meistens schon sehr sicher, dass bei ihnen etwas anders ist. Der Umgang damit ist hingehen sehr individuell. Viele Jugendliche geben sich selbst ein Label, manche dagegen finden auch trotz langer Recherche und Suche nichts, was auf sie zutrifft. In den Anfragen, die uns erreichen, wird zumeist deutlich, dass das die Jugendlichen stark beschäftigt und das oftmals auch schon seit mehreren Jahren. Also einen Trend oder eine Modeerscheinung sehe ich nicht.
Haben sich die Ängste und Bedenken der Jugendlichen denn gerade in puncto Selbstdefinition und Coming-out in den vergangenen zehn bis 20 Jahren verändert?
Die Grundkonstante „Ich bin anders als die Mehrheitsgesellschaft“ zieht sich seit damals bis heute durch. Das wird wahrscheinlich auch in der Zukunft eine Grundkonstante bleiben. Was sich verändert hat, ist, dass Angebote vermeintlich leichter zu finden sind, durch das Internet oder Social Media. Die Jugendlichen merken aber oft, dass diese digitalen Angebote nicht tragen, es braucht ab einem gewissen Punkt den realen Kontakt, die reale Begegnung mit einem richtigen Menschen. Sonst schwebt die Thematik auf immer in der Luft, bleibt also sozusagen im digitalen Raum hängen.
Wo liegen heute die größten Hürden für queere Jugendliche?
Für die Jugendlichen, die mit uns schreiben, ist die gesamtgesellschaftliche, politische Lage nicht relevant. Es geht immer um das soziale Umfeld, insbesondere um das eigene Elternhaus. Wie reagieren die Eltern? Und dicht gefolgt von der Frage, wie die Peer-Group reagiert, also der eigene Freundeskreis. Das ist für viele Jugendliche in diesem Alter besonders wichtig. Was sagen die Freunde und wie geht es mir damit in der Schule? Was wir aktuell beobachten, ist die Tatsache, dass es inzwischen sehr offene Schulen gibt – auch ein deutlicher Unterschied im Vergleich zu vor zwanzig Jahren. Es gibt also durchaus Jugendliche, die uns schreiben, dass sie an ihrer Schule geoutet sind und nun mit einem anderen Thema zu uns kommen wollen.
Das heißt, ein Coming-out kann heute auch in der Schule einfacher angegangen werden?
Es kommt immer darauf an, was ist das für eine Schule, wo liegt die Schule? Es macht auch oft einen Unterschied, ob der Jugendliche in der sechsten oder siebten Klasse oder bereits in der Oberstufe ist. Es gibt von uns da keine allgemeinen Rezepte, sondern wir schauen uns vorab die Situation an. Gab es an der betreffenden Schule schon einmal LGBTQIA+-offene Menschen? Gibt es Lehrer:innen, die vielleicht offen schwul oder lesbisch sind oder signalisieren, dass sie für die Thematik offen sind, beispielsweise weil sie im Unterricht auch über die CSDs sprechen. Dann wäre es sinnvoll, erst einmal mit diesen Personen auszuloten, wie sich die Situation an der jeweiligen Schule darstellt. Vor dem großen Coming-out an der Schule fragen wir die Situation bei den Jugendlichen sehr genau ab. Ist es wirklich das, was du willst? Und wir fordern die Jugendlichen auch immer auf, einen Schritt weiterzudenken – was ist denn, wenn das oder jenes eintritt? Man braucht immer eine Alternative.
Wie sieht das bei den Eltern aus? In Umfragen zeigt sich, dass die Deutschen zwar immer positiver mit der queeren Thematik umgehen, aber plötzlich Bedenken haben, wenn das eigene Kind betroffen ist.
Ich würde schon sagen, dass sich hier einiges geändert hat. Es gibt inzwischen glücklicherweise sehr viele positive Beispiele, wo die Eltern sehr locker reagieren. Gleichzeitig geben wir den Jugendlichen immer mit auf den Weg, dass auch Eltern ein Recht darauf haben, eine Zeit in Anspruch zu nehmen, um sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Eltern haben also sozusagen ihr eigenes Coming-out. Man muss sich die Gesamtsituation klarmachen: Queere Jugendliche haben sich oft vier bis sechs Jahre mit der Thematik beschäftigt, bevor sie sich das erste Mal einer Person anvertrauen. Sie haben viel recherchiert, viel nachgedacht und Pro und Contras abgewogen. Am Ende bekommen es die Eltern dann mitgeteilt und sollen sich dann in dieser einen Minute sofort dazu verhalten. Wenn die Eltern sehr liberal und offen leben, dann ist eine sofortige positive Reaktion vielleicht gar keine große Angelegenheit. Wenn man als Elternteil aber selbst auch anders aufgewachsen ist, dann braucht man damit ein bisschen länger. Im Großteil der Fälle kommen die Eltern aber nach einer Weile damit klar.
Was sind denn zentrale, wichtige Punkte, die die Berater:innen den Jugendlichen grundsätzlich vermitteln wollen?
Was wir mit auf den Weg geben wollen, ist, dass es zunächst einmal jeder Person selbst überlassen ist, in welchem Tempo alles passiert. Braucht es zudem überhaupt ein eigenes Label? Wofür ist das wichtig? Ist so ein Label über die eigene Sexualität etwas, das man selbst will und verfolgt oder meint man es aufgrund anderer Personen zu brauchen. Letzten Endes fragen wir immer ganz viel nach, wie die spezielle Situation einer jeden Person ist und versuchen dann, individuell Handlungsoptionen aufzuzeigen. Es geht immer darum, was die Person in ihrem Innersten trägt und wie und wann die Person welche Schritte machen möchte.
Die Suizidraten unter queeren Jugendlichen sind seit Jahren leider gleichbleibend sehr hoch. Im Durchschnitt fünf bis sieben Mal höher als bei gleichaltrigen Heterosexuellen. Eine Umfrage von anyway Köln zeigte auf, dass durch die Pandemie die Zahlen auch in Deutschland noch weiter angestiegen sind. 25 Prozent der queeren Jugendlichen unter 18 Jahren haben seit Corona suizidale Gedanken. Wie sollten Geschwister, Freunde oder Eltern von einem queeren Jugendlichen reagieren, wenn sie eine solche Wesensveränderung bemerken?
Generell wichtig ist, den queeren Jugendlichen zu signalisieren: Ich bin da für dich. Egal, was kommt – auch wenn es dir gerade schlecht geht. Dir darf es schlecht gehen. Alles ist besser, als diese gutgemeinten, aber leider am Ende dennoch furchtbar schlechten Aufheiterungsversuche frei nach dem Motto: Anderen geht es doch noch viel schlechter. Und ansonsten sollte man dieser Person den Raum und die Zeit geben, die sie braucht. In 95 Prozent der Fälle ist es bei queeren Jugendlichen so, dass sie sich in der ersten Phase des eigenen Coming-outs einsam, allein und ganz anders fühlen. Ich würde dann immer empfehlen zu versuchen, Kontakt mit anderen queeren Gleichaltrigen aufzunehmen. In den größeren Städten geht das ja schon sehr gut über queere Jugendgruppen. Es gibt aber auch gute Internetangebote von und für queere Jugendliche, gerade für solche im ländlichen Raum. Das Wichtigste ist immer, dass die Jugendlichen eines merken: Sie sind nicht allein.
Verbessert sich auf lange Sicht die Gesamtsituation für queere Jugendliche?
Ich würde sagen, die heutige Situation für queere Menschen ist „anders schwierig“. Für manche ist es tatsächlich leichter geworden, aber für den ganz großen Teil der Jugendlichen wird alles eher komplexer. Es gibt viel mehr Ebenen und Angebote. Das Coming-out und der Umgang mit der eigenen Sexualität ist anders schwierig und es bleibt eine Zäsur im Leben eines jeden Einzelnen, die ganz wesentlich die weitere Persönlichkeitsentwicklung prägt. Zudem gehen die Unterschiede der Erfahrungen, diese Kluft, immer weiter auseinander. Vor zehn oder zwanzig Jahren haben wir nicht über rechte Parteien im Parlament sprechen müssen, wir mussten auch nicht über Social Media und Hass-Postings aufklären. So gibt es auf der einen Seite diese massive, sichtbare Ablehnung, die mit Sicherheit größer geworden ist, als sie früher war. Und auf der anderen Seite aber auch eine große Akzeptanz gegenüber verschiedenen Lebensweisen. Und die schwierige Frage für alle queeren Jugendlichen ist dann: Wo befinde ich mich dabei?
Der Beratungs-Messanger „…und so! - Messenger“ gibt es kostenlos im App Store von Apple und im Google Play Store.
Autor des Interviews: JHM Schmucker