Niederlande schützen queere Menschen per Verfassung - in Deutschland stehen die Chancen dafür schlecht

Die Niederlande verankern den Schutz der „sexuellen Orientierung“ in der Verfassung. Für das deutsche Grundgesetz sieht es da schlecht aus.
Es geht um nicht weniger als die Frage: Wie wichtig ist uns in Deutschland die LGBTQIA+-Community? Für wie schützenswert halten wir queere Menschen? Aus gutem Grund wurde der Artikel 3 des deutschen Grundgesetzes in drei Teile untergliedert. Während der Passus 1 und 2 festhalten, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich und zudem Männer und Frauen gleichberechtigt sind, wird in Punkt 3 explizit auf Menschen eingegangen, die als Lehre aus den Gräueltaten der Nationalsozialisten als besonders schützenswert eingestuft werden. Dort steht: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“
Seit mehr als dreißig Jahren kämpfen nun LGBTQIA+-Aktivist:innen darum, dass auch die sexuelle und die geschlechtliche Identität mit in den Artikel 3.3 des Grundgesetzes aufgenommen werden. Zuletzt im Mai 2021 sorgten zwei bundesweite Aktionen für Aufsehen. Eine davon war die Kampagne #zeigdie3, die von über 100 prominenten Persönlichkeiten aus Deutschland unterstützt wurde. Zeitgleich rief auch die Aktion „Grundgesetz für alle“ von All Out zu einer Petition auf, die bis heute fast 90.000 Menschen unterschrieben haben. Auch hier fanden sich zahlreiche prominente Unterstützer.
„Sexuelle Identität“ soll in Artikel 3 des Grundgesetzes verankert werden
Umgesetzt wurden die Forderungen bisher nicht, was offenbar vor allem an der Blockade-Politik und dem Koalitionszwang der ehemaligen schwarz-roten Bundesregierung lag. Die aktuelle Ampel-Koalition hat indes erklärt, das deutsche Grundgesetz Artikel 3 noch in dieser Legislaturperiode bis 2025 um den Begriff „Sexuelle Identität“ erweitern zu wollen. Konkrete zeitliche Umsetzungspläne gibt es allerdings noch nicht und so könnten die Niederlande an Deutschland vorbeiziehen.
Das Nachbarland stimmte in diesen Tagen in der Zweiten Kammer des niederländischen Parlaments für eine Verfassungsänderung, um die „sexuelle Orientierung“ als besonderes Schutzmerkmal zu verankern. Final muss dem nun nur noch der Senat zustimmen – dessen Zustimmung wird in der zweiten Jahreshälfte 2022 erwartet, sodass die Niederlande dann deutlich schneller als Deutschland einen wesentlichen Schritt auf die queere Community zugemacht haben dürften.
Die Hürden zu einer Änderung im Grundgesetz liegen übrigens in beiden Ländern ähnlich hoch - Zweidrittel der jeweiligen Abgeordneten müssen dem zustimmen. In den Niederlanden dürfte das kein Problem sein, 4 von 5 Abgeordneten stimmten in der zweiten Kammer bereits für die Verfassungsänderung. In Deutschland bedarf es der Zustimmung weiterer Parteien abseits der Ampel-Koalition, um eine Grundgesetzänderung tatsächlich umsetzen zu können. Aber wie realistisch sind diese Pläne mit Blick auf die aktuelle Stimmenverteilung im Bundestag? Der Verfassungsrechtler Professor Christian Pestalozza von der Freien Universität Berlin sieht gegenüber Buzzfeed News das Vorhaben sehr kritisch: „Chancen auf eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag oder im Bundesrat hat das Vorhaben keine. Vergleichbare Vorstöße, die ,sexuelle Identität‘ in den Absatz 3 aufzunehmen, sind seit 1994 mehrfach, zuletzt 2021 im Bundesrat, gescheitert. Das wird auch diesmal so sein“, sagt er.
Gesetzesänderung grundsätzlich schnell möglich - aber mit sehr hohen Hürden
Keine guten Aussichten für die LGBTQIA+-Community. Verpufft die Ankündigung der Bundesregierung damit und wird zu einem reinen Image-Projekt? Und wie realistisch sind dann die anderen Pläne in puncto LGBTQIA+ einzuschätzen? Fakt ist, dass im Falle des Grundgesetzes die rechtlichen Hürden viel höher liegen als bei allen anderen Vorhaben der Ampel-Koalition. Grundsätzlich könnte eine Grundgesetzänderung bei einer Mehrheit in sehr kurzer Zeit umgesetzt werden, wie das Infektionsschutzgesetz eindrucksvoll belegt hat.
Bei der konkreten Ausarbeitung sieht Pestalozza allerdings noch Handlungsbedarf: „Rechtlich ist gegen eine Ergänzung des Artikels 3 Absatz 3 des Grundgesetzes nichts einzuwenden. Das schon bisher vorhandene Kriterium ,Geschlecht‘ umfasst die ,sexuelle Identität‘ jedenfalls nicht eindeutig, sodass eine Klarstellung durchaus willkommen sein kann. Sprachlich würde ich es bevorzugen, wenn vorsorglich auch die „geschlechtliche“ Identität genannt würde und wenn zudem statt von ,Identität‘ wie im Primärrecht der Europäischen Union von ,Ausrichtung‘ gesprochen würde“, so der Verfassungsrechtler.
Ferner gibt der Berliner Verfassungsexperte zu bedenken, dass eine solche Ergänzung in der jetzigen Form auch zu kurz greifen würde, denn zwei weitere Aspekte bedürften einer gesonderten Aufmerksamkeit: Zum einen gehe es darum, wie im Grundgesetz künftig mit dem umstrittenen Wort ,Rasse‘ umzugehen ist, zum anderen fehlt bei der Betrachtung der besonders schützenswerten Gruppen im Grundgesetz Artikel 3 das Kriterium Alter – Stichwort: Altersdiskriminierung.
Die Chancen, dass die „sexuelle Identität“ ins Grundgesetz aufgenommen wird, stehen schlecht
Die Chancen, dass es überhaupt zu einer ernsthaften Umsetzung der Änderung des Grundgesetzes kommt, stehen offenbar schlecht. Viele Optionen gibt es nicht, das Vorhaben umzusetzen. „Eine Möglichkeit wäre, dass die Koalition ein größeres Grundgesetzänderungspaket schnürt, zu dem ein ausreichend großer Teil der Opposition nicht Nein sagen kann oder möchte, oder sie macht gleichzeitig einfachgesetzliche Zugeständnisse an die Opposition in anderen Bereichen“, sagt Pestalozza. „Die Annahme, dass die Opposition unter solchen Umständen mitziehen würde, liegt deshalb nicht fern, weil die bisherigen Ablehnungen allein damit begründet wurden, dass entweder Absatz 1 oder Absatz 3 des Artikel 3 GG schon jetzt unausgesprochen gegen eine Diskriminierung wegen der sexuellen Identität schützen würden, also nicht auf grundsätzlicher Ablehnung in der Sache beruhten.“ Der Plan, queere Menschen durch eine Änderung des Grundgesetzes besser zu schützen, dürfte damit ein schwieriges Projekt der aktuellen Ampel-Koalition sein. (Von JHM Schmucker)