Märchen sind voller Gewalt – vorlesen sollten wir sie trotzdem
Sind Märchen nicht viel zu veraltet und brutal, um sie noch Kindern vorzulesen? Nein, sagen eine Erziehungswissenschaftlerin und ein Jugendpsychiater.
Die Hexe, die Gretel im Ofen braten wollte. Der böse Wolf, der das Rotkäppchen verspeist. Märchen sind oft ganz schön brutal. Gerade an Weihnachten, wenn die Öffentlich-Rechtlichen gefühlt jeden Tag Märchenfilme (diese hier sind Top obwohl sie nicht von Disney sind) zeigen, stellt sich die Frage: Sollen wir Kindern, Märchen überhaupt noch vorlesen?
BuzzFeed News DE hat den Jugendpsychiater Ingo Spitczok und eine Erziehungswissenschaftlerin Funda Yazici nach ihrer Meinung gefragt. Beide sind überzeugt: Eltern können ihren Kindern Märchen nicht nur sorgenfrei vorlesen – sie sollten es sogar unbedingt!
Gewalt in Märchen hilft Kindern, damit in der Realität umzugehen, sagt Jugendpsychiater
„Gewalt ist Bestandteil unserer Welt“, sagt Spitczok gegenüber BuzzFeed News DE. Deshalb ist es nach der Meinung des Jugendpsychiaters gar nichts Negatives, dass Gewalt in Märchen vorkommt. „Würde den Kindern eine ausschließlich heile Welt vermittelt, träfen sie völlig unvorbereitet auf Gewaltdarstellungen und -erlebnisse in der realen Welt“, sagt er. Wenn Kinder nicht durch die fiktiven Geschichten auf Gewalt vorbereitet werden, sei die Gefahr viel größer, dass sie in der Realität „damit nicht fertig würden und Schaden nähmen“.
Erziehungswissenschaftlerin Yazici sieht sie die teilweise gewaltvollen Inhalte in Märchen etwas kritischer. „Kinder haben ein anderes Verständnis von Gewalt und Brutalität“, sagt sie. Der Grund sei, dass „Kinder nicht so reflektieren können wie Jugendliche, Junge Erwachsene oder Erwachsene. Kinder reflektieren auf ihrer Art und Weise – also kindlich.“ Selbst Szenen aus dem Kinderfilm „Bibi und Tina“ verstören manche Kinder. Dennoch ist sie davon überzeugt, dass dieser Aspekt Eltern nicht vom Vorlesen abhalten sollte. „Kinder profitieren viel von Märchen, daher werden Märchen immer mehr in verschiedene Therapieformen eingebunden“, sagt sie.
Der Jugendpsychiater weist außerdem darauf hin, dass klassische Märchen ein gutes Ende haben. „Das stärkt die Zuversicht, aus gewaltbelasteten Situationen gesund hervorzugehen.“ Beim Märchenvorlesen sei es wichtig, dass Kinder und Vorlesende gemeinsam über die Geschichten sprechen. „So bleibt keiner mit seinen Gefühlen allein.“ Selbst wenn also negative Einflüsse in den Märchen enthalten sein sollten, werden Kinder laut Spitczok durch das Miteinanderreden gestärkt.

Auch bei der Conni-Buch-Reihe stellt sich die Frage, ob wir sie Kindern noch vorlesen sollten. Unsere Autorin hält die Conni-Bücher für realitätsfern und problematisch.
Jugendpsychiater Ingo Spitczok: „Kinder wissen, dass Märchen Fantasiegeschichten sind“
Die böse Stiefmutter in „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“, die ihre Stieftochter gegenüber ihren leiblichen Kindern benachteiligt. Veraltete und unzeitgemäße Rollenbilder kommen nicht selten in Märchen vor. Spricht das nicht dagegen, Kindern noch Märchen vorzulesen? Jugendpsychiater Spitczok verneint das gegenüber BuzzFeed News DE. Wie er sagt, nehmen Kinder die Geschichten nicht einfach ungefiltert auf: „Kinder wissen, dass Märchen Fantasiegeschichten sind und nicht in Stein gemeißelte Realität“.
Rollenverteilungen begegnen die Kinder laut ihm nicht nur in Märchen, sondern auch sonst im Alltag: zu Hause, im Kindergarten, in anderen Büchern, in den Medien oder beim Spielzeug, weshalb Spanien dort Geschlechterklischees verbietet. Diese Diversität mache es unwahrscheinlich, dass Kinder durch die Stereotype in den Märchen „übermäßig geprägt werden“.
Erziehungswissenschaftlerin Yazici erklärt den Hintergrund der Stereotype in den Märchen: Sie geben den Charakteren ihre Eigenschaften. „In Märchen haben die Charaktere oftmals keine Namen.“ Stattdessen werden diese laut Yazici mit ihren Eigenschaften oder Rollen dargestellt, also zum Beispiel Stiefmutter, König oder Prinzessin.
5 weitere Gründe, warum wir Kindern noch Märchen vorlesen sollten
Wer sein Weihnachten mit Kindern verbringt, kann sich die Bände der Gebrüder Grimm schon einmal einpacken. Denn trotz Einwände, macht es nach den beiden Expert:innen Sinn, Kindern Märchen vorzulesen. Schaden tun sie nicht. Nur – was können Kinder von Märchen heutzutage noch lernen? Wir haben 5 Dinge gesammelt:
1. Märchen regen die Fantasie an
Sowohl Spitczok, als auch Yazici sind der Ansicht, dass Märchen die Fantasie anregen. Auf der einen Seite zeigen Märchen laut Spitczok Situationen, die Kinder bereits aus ihrem Alltag oder den Medien kennen. Sie lernen jedoch auch magische Momente kennen, die außerhalb der Realität liegen – diese „erweitern die Vorstellungswelt des Kindes“. Ähnlich wie dann, wenn wir Kindern vom Weihnachtsmann erzählen.
2. Emotionale und sprachliche Kompetenz
Rotkäppchen hat Angst vor dem bösen Wolf, Hänsel und Gretel sind als Geschwister eng verbunden: In Märchen werden laut Spitczok immer auch Emotionen transportiert. Beim Erzählen von Märchen können Kinder „starke Gefühle erleben, benennen und sie mit den Vorlesenden teilen“, sagt der Jugendpsychiater gegenüber BuzzFeed News DE. Vorlesen stärke also die „emotionale Kompetenz der Kinder“. Auch ihre Sprache verbessere sich, wenn sie mit Märchen in Berührung kommen.
3. Bindung zu Kindern wird gestärkt
Das Vorlesen von Märchen hat aber noch einen anderen Vorteil für Kinder, erklärt Spitczok gegenüber BuzzFeed News DE. „Wird nicht einfach ein Hörspiel oder Hörbuch abgespielt, sondern liest eine fürsorgliche Person dem Kind vor, schafft dies auch Sicherheit und Geborgenheit.“ Märchen vorlesen verstärke demnach die Bindung der Kinder zu den Eltern oder derjenigen Person, die vorliest.
4. Werte und Traditionen
Die Gebrüder Grimm gehören fast schon zur deutschen Kultur, so viel kann man sagen. Nach Yazici ist es deshalb wichtig, Märchen vorzulesen, weil damit „Bräuche und Traditionen weitergegeben werden“. Märchen vermitteln laut der Erziehungswissenschaftlerin bestimmte Werte, etwa „den Ausgleich zwischen Gut und Böse“. Durch Märchen erkennen Kinder, „dass die Welt nicht nur rational zu begreifen ist“. Historische Situationen in Märchen transportieren aber auch rationales Wissen, wie Spitczok klarmacht.
5. Identitätsfindung
Zu guter Letzt können Kinder „durch die Märchenhelden Erfahrungen sammeln und dadurch für ihr eigenes Leben lernen“, wie die Erziehungswissenschaftlerin gegenüber BuzzFeed News DE sagt. Märchen können Kindern also dabei helfen, die eigene Identität zu formen.
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