„Minderheitenstress“ – Alkoholkonsum in der queeren Community öfter und intensiver

Alkoholkonsum in der LGBTQIA+-Community nimmt zu. Gründe dafür können Diskriminierung, Angst vor Ablehnung und Gewalt sein. Ein Problem, denn legal heißt nicht per se ungefährlich.
Wir wollen es noch nicht so recht wahrhaben, doch die dunkle Jahreszeit steht wieder vor der Tür – die Tage werden kürzer und vielleicht wird es auch in einigen Wohnungen dieses Jahr zudem deutlich kühler werden als je zuvor. Nach den Pride-Feierlichkeiten im Sommer versucht die LGBTQIA+-Community auf den Halloween-Partys der Lebensfreude des Sommers nachzuspüren. Mit dabei der beste Freund, der Alkohol. Nach zweieinhalb Jahren Pandemie und Lockdowns wollen wir jetzt bitte nicht schon wieder home alone sein.
Kein Wunder, dass die Zahl derjenigen in der Community, die immer öfter und intensiver zum Alkohol greifen, ansteigt. Eine US-Studie des University of Maryland Prevention Research Centers belegte vor kurzem, dass der Alkoholkonsum bei jedem dritten queeren Menschen deutlich zugenommen habe. Im gleichen Zeitraum griffen hingegen „nur“ 14 Prozent der Heterosexuellen öfter zur Flasche.
„Minderheitenstress“ als Ursache für Alkohol-Konsum von queeren Menschen
Alkohol und die LGBTQIA+-Community gehen immer mehr eine besondere Allianz ein, wie auch Drogenreferent Dirk Schäffer von der Deutschen Aidshilfe gegenüber BuzzFeed News von IPPEN.MEDIA bestätigt: „Der Konsum von queeren Menschen verdient tatsächlich besondere Aufmerksamkeit. Beratungsstellen berichten, dass Anfragen im Zusammenhang mit Alkohol- und Substanzkonsum gestiegen sind. Der Konsum von Alkohol und psychoaktiven Substanzen ist bei queeren Menschen schon zuvor höher gewesen als der in der Allgemeinbevölkerung und kann als eine Bewältigungsstrategie begriffen werden. Wir sprechen hier unter anderem von Minderheitenstress, also den Stressfaktoren, die bei queeren Menschen zu den alltäglichen der Mehrheitsbevölkerung hinzukommen.“
Kurz gesagt, die Pandemie und das Gefühl, zu Hause manchmal vereinsamt wie im eigenen Käfig zu sitzen, haben viele Menschen erlebt, bei queeren Personen kommt hier noch eine zusätzliche Portion an Problemen obendrauf. „Das kann zum Beispiel Diskriminierung sein, Angst vor Ablehnung und Gewalt, Probleme mit dem Selbstwertgefühl, die daraus resultieren, die Mühen der Identitätsfindung, aber auch Einsamkeit.“ Insofern sei es nicht überraschend, dass in Zeiten, in denen Begegnungsräume von queeren Menschen geschlossen wurden, der Alkohol- oder Substanzkonsum angestiegen sei.
Alltagsdroge Alkohol: „Alkohol muss verstärkt in den Blickpunkt rücken“
Denkt man an die Community im Zusammenhang mit diversen Party-Substanzen, fallen vielen eher diverse illegale Tabletten oder auch Chemsex ein, wenige wissen, dass der Alkohol immer an erster Stelle steht: „Studien zeigen eindeutig, dass Alkohol die Substanz No. 1 ist. Chems sind für die meisten schwulen Männer keine Alltagsdroge wie Alkohol! Alkohol muss daher verstärkt in den Blickpunkt rücken. Es muss klar werden: Ob und wie schädlich eine Substanz ist, hängt davon ab, wie Menschen mit ihr umgehen. Legal heißt nicht per se ungefährlich und verboten heißt nicht automatisch, dass Konsum problematisch ist. Darüber müssen wir reden.“
Die Deutsche Aidshilfe drängt daher vehement darauf, flächendeckend spezifische Beratungs- und Hilfsangebote für queere Konsument:innen aller Substanzen aufzubauen, denn, der Konsum könne laut Schäffer schnell außer Kontrolle geraten. „Generell bräuchte es ein Umdenken in der Drogenpolitik in Deutschland. Ziel kann nicht die Bestrafung und Illegalisierung sein. Vielmehr bedarf es eines Ausbaus von Angeboten, die den Kompetenzerwerb und die Reflexion im Umgang mit Substanzen – auch Alkohol – ermöglichen, ohne Forderungen nach Abstinenz aufzustellen.“
Deutsche Aidshilfe fordert ein Werbeverbot bei Alkohol und Tabakprodukten
Gerade für queere Personen ein wichtiger Schritt – doch haben LGBTQIA+-Menschen generell auch abseits einer Pandemie ein besonderes Gefahrenpotenzial, öfter zu Rauschmitteln wie Alkohol zu greifen?
„Generell lässt sich sagen: Menschen lernen, mit Diskriminierung und Abwertung umzugehen, die meisten werden souveräner, wenn sie älter werden. Junge Menschen, die in ihrer Identität noch nicht gefestigt sind, sind in vielerlei Hinsicht besonders gefährdet und belastet. Das wird sich bei vielen sicherlich auch auf den Konsum von Substanzen auswirken, die ja oft Schmerzen und Ängste lindern sollen.“
Bleibt die Frage offen, was sich der Experte von politischer Seite wünscht. „Die Deutsche Aidshilfe setzt sich generell für ein Werbeverbot bei Alkohol und Tabakprodukten ein. Psychoaktive Substanzen sollten über einen staatlich regulierten Fachhandel abgegeben werden. Es gibt in der Fachwelt Überlegungen, dass auch Alkohol nicht im Supermarkt oder sogar an Tankstellen verkauft werden sollte, sondern in spezialisierten Shops. Bei bisher illegalen Substanzen, zum Beispiel Cannabisprodukten, böte das die Möglichkeit zu Jugend- und Verbraucherschutz.“
Eines sei dabei abschließend laut Schäffer klar: „Das Verbot von Substanzen war in der Vergangenheit wenig erfolgreich. Der Konsum wird in die Illegalität verdrängt, Schwarzmärkte bringen kriminelle Strukturen und unberechenbare Substanzen hervor. Damit wird nur Scheinsicherheit erzeugt, kein echter Schutz.“