Was den deutschen Oscar-Gewinner ziemlich problematisch macht
„Im Westen nichts Neues“ hat vier Oscars gewonnen. Doch es gibt nicht nur Gründe, die für den deutschen Film sprechen.
MEINUNG
Die Nahaufnahme einer Leiche. Eine Totale zeigt einen Berg toter Menschen. Wenig später wieder eine Leiche, die die Zuschauer:innen anstarrt. Es sind erbarmungslose Bilder, mit denen „Im Westen nichts Neues” seine Zuschauer:innen sofort konfrontiert.
Im Netflix-Film melden sich vier Schüler mitten im Ersten Weltkrieg für die Armee, um ihrem Vaterland zu dienen. Sie werden eingezogen, an der Front weicht die Euphorie der sadistischen, erschütternden Realität.
Bilder und Geschichte haben ihre Wirkung bei den Oscars entfaltet. Vier Auszeichnungen holte „Im Westen nichts Neues“, zum ersten Mal seit 15 Jahren gewann ein deutscher Beitrag in der Kategorie „Bester Internationaler Film“.
Jedes Bild in dem fast zweieinhalbstündigen Kriegsepos nach dem Roman von Erich Maria Remarque wirkt perfekt, ja fast zu viel in Farbe und Kontrast. Jede Kamerafahrt in dem deutschsprachigen Film, der für gleich neun Auszeichnungen nominiert war, sitzt. Jede Aufnahme kommt in Bildstruktur und Color Grading, der Farbkorrektur, wie ein Gemälde daher.

In diesen Kategorien musste „Im Westen nichts Neues“ einen Oscar kriegen
Doch in der Herkunft als Netflix-Auftragsproduktion liegen Chance und Gefahr zugleich. „Im Westen nichts Neues“ wirkt komplett durchkomponiert. In Kategorien wie beste Kamera und bestes Szenenbild konnte es kaum Zweifel an einer Oscar-Auszeichnung für den potenziellen deutschen Überflieger geben. Gleichzeitig ist das filmische Ergebnis nicht nur allzu erwartbar. Die Überinszenierung eines Kriegsdramas darf durchaus hinterfragt werden. Kunst im Krieg. Wuchtig, aber berechenbar – und typisch in der Machart einer Netflix-Produktion.
Zwei wirklich gute Gründe, warum „Im Westen nichts Neues“ oscarreif war
Also wirklich nichts Neues bei „Im Westen nichts Neues“? Nicht ganz. Die großartige Filmmusik samt Academy-Award hat sich das Kriegsdrama redlich verdient. Das Hauptthema „No End“ sticht heraus: ein verstörender, mächtiger Dreiklang, im Verlauf des Films abgewandelt, in jedem Moment andersartig. Eine Art „Anti-Ton“ zum perfekten Bild, der beim ersten Hinhören nicht so recht passen mag zur sonstigen Inszenierung, dann aber doch hervorsticht und sich gleichzeitig einfügt in die düstere, dramatische Gesamtstimmung. Dazu die monotonen, rudimentären Percussions. Erwartet hätten geübte Zuschauer:innen hier wahrscheinlich einen epischen Hans-Zimmer-Sound. Gut, dass sie ihn dieses Mal nicht bekommen.
Auch die Erzählstruktur wirkt auf den ersten Blick nicht wie das gewohnte Hollywood-Blockbusterkino. Statt der zwei typischen plot points – also Überraschung oder Wende inmitten der Handlung – führt „Im Westen nichts Neues“ erstens kaum ein, sondern schockiert direkt. Dem Lachen der jungen Soldaten bei ihrer gewollten Einberufung, ihrer Lust auf den Kampf und Gier auf den Krieg wird sofort und unumwunden die erschütternde Realität entgegengesetzt. Die Zuschauer:innen werden wie die Protagonisten von vorneweg mit dem Schlimmsten konfrontiert. Statt Lachen die Furcht. Das Durchdrehen statt der Träumerei von der Paris-Eroberung.
Gutes Schauspiel statt rein klassisches Hollywoodkino
Nach dem unmittelbaren Einstieg ins Kriegsgeschehen werden allein die Verhandler Matthias Erzberger und Kriegstreiber General Friedrich, gespielt von Daniel Brühl und Devid Striesow, eingeführt und etabliert. Es folgen letztlich nur noch die Umkehr zur Hilfsbereitschaft, Trauer und Reue des deutschen Soldaten Paul Bäumer, gespielt von Felix Kammerer, der dem französischen Feind auf dem Schlachtfeld an der Front helfen will, nachdem er diesen gerade getötet hat. Und die Selbsttötung des deutschen Soldaten Tjaden Stackfleet, gespielt von Edin Hasanović, obwohl Rettung und Waffenstillstand unmittelbar bevorstehen. Diese Szenen sind durch die geringe Streuung umso stärker, zumal die starken Emotionen der Soldatencharaktere viele Zuschauer:innen überwältigen.
Darum hat „Im Westen nichts Neues“ den Oscar für den besten internationaler Film zurecht bekommen. Die rein „technischen“ Oscar-Kategorien sind gewollt, Netflix-typisch und trotz, vielleicht sogar wegen der perfekten Inszenierung fragwürdig. Mit seinen Besonderheiten in den qualitativen Oscarnominierungen dagegen verdient sich „Im Westen nichts Neues“ seinen Status als vierfacher Gewinner und deutscher Überflieger bei den Oscars dann aber doch.