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Queere Afghan:innen suchen Schutz in Deutschland – „weiß nicht, ob alle noch am Leben sind“

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Von: Michael Schmucker

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Taliban-Kämpfer stehen Wache vor einem Bildungszentrum in Kabul, das von einem Selbstmordattentäter angegriffen wurde.
Die militant-islamischen Taliban ergriffen nach dem Afghanistan-Abzug der US-Armee im August schnell die Macht. © Ebrahim Noroozi/dpa

Queere Menschen müssen in Afghanistan um ihr Leben fürchten. 25 von ihnen könnten nun endlich nach Deutschland evakuiert werden.

Nach über einem Jahr Schweigen und massiver Kritik von LGBTQIA+-Verbänden hat Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und Innenministerin Nancy Faeser (SPD) zuletzt erklärt, künftig 1000 Personen monatlich aus Afghanistan zu evakuieren – darunter auch queere Menschen. Erstmals wurde LGBTQIA+ als Fluchtgrund offiziell anerkannt.

Seitdem sich die USA zusammen mit ihren Verbündeten im August 2021 aus Afghanistan zurückgezogen haben, fiel das Land in Rekordzeit wieder unter das Taliban-Regime. Queere Personen werden zu Tode gepeitscht, durch Verbrennen mit glühendem Eisen oder offenem Feuer gequält oder auch lebendig begraben. Die Bilder, die Soziologe und Autor Jörg Hutter vom queeren Verein Rat und Tat in Bremen vorliegen, sind an Grausamkeit kaum zu ertragen.

25 Visa-Anträge von queeren Menschen aus Afghanistan nach knapp 14 Monaten bearbeitet

Rund 200 Visa-Anträge hat der Verein an das Außenministerium gestellt, jeder Fall enthält ein ausführliches Interview und ist ein Zeugnis von Brutalität und Menschenverachtung. Das Ministerium schwieg, beinahe 14 Monate lang, bevor jetzt die Kehrtwende kam. Die ersten 25 Visa-Anträge von LGBTQIA+-Personen werden aktuell bearbeitet. „Die Ankündigungen kommen definitiv zu spät, aber ich habe die Hoffnung und die Erwartung, dass es jetzt umgesetzt wird“, so Hutter gegenüber BuzzFeed News von Ippen.Media.

Ein Grund zur Freude, sicherlich, doch ob am Ende tatsächlich ein Visum erteilt wird, entscheiden binnen mehrerer Wochen gleich zwei Ministerien. Der Dramatik der Lage wird die Bürokratie in Deutschland nicht gerecht. Es mutet allein schon absurd an, dass sowohl Außen- wie Innenministerium unabhängig voneinander die Anträge und die Faktenlage überprüfen und das auch nicht parallel, zeitgleich, sondern in Ruhe nacheinander.

Queere Menschen in Afghanistan: „Ich hoffe, dass diese 25 Menschen noch alle rechtzeitig da rauskommen“

„Ich hoffe, dass diese 25 Menschen noch alle rechtzeitig da rauskommen. Wir haben von den 25 Personen aktuell gar nicht mehr alle erreicht. Ich weiß nicht, ob alle überhaupt noch am Leben sind“, so Hutter. Jetzt müssen alle anderen Anträge, auch die bereits gestellten, noch einmal neu in das bereitgestellte Tool eingegeben werden – man erwartet, dass das abermals von NGO-Mitarbeiter:innen übernommen wird.

Zudem ist noch immer fraglich, wie transparent der Entscheidungsprozess in beiden Ministerien verlaufen wird, bisher war dies laut Hutter eine Einbahnstraße. Kaum vorstellbar, dass künftig Verbände aktiv von den Behörden vor Zu- oder Absagen zu Rate gezogen werden. Dabei eilt die Zeit, für die LGBTQIA+-Afghan:innen zählt jeder Tag, täglich finden Hausdurchsuchungen statt, bis auch die letzten Verstecke gefunden sind.

Zeitgleich bauen die Taliban ihre Gewaltherrschaft weiter aus und machen alle Grenzen dicht. Für Hutter ist klar:

Alle queeren Menschen, die jetzt nicht fliehen können oder gerettet werden, werden in den kommenden Monaten allesamt schlussendlich entdeckt und von den Taliban umgebracht werden. Komplett. Alle!

Jörg Hutter vom queeren Verein Rat und Tat in Bremen

Queere Afghan:innen müssen in Deutschland beweisen, dass sie gefährdet sind – „absurd“

Fraglich ist auch, wie realistisch die angekündigte Hilfe am Ende tatsächlich ist, denn queere Menschen müssen auch im neuen Hilfsprogramm der Bundesregierung beweisen, dass sie offiziell gefährdet sind, so Hutter. Allein schwul, lesbisch, transsexuell oder queer zu sein, reiche dabei nicht grundsätzlich aus. Selbst Folterbilder sind als Beweis offenbar nach Angaben anonymer Quellen nicht immer entscheidungsfördernd, wenn das Opfer darauf nicht eindeutig identifizierbar ist.

„Es ist letztendlich absurd, so etwas abzufragen. Die Taliban sind ein autoritäres Unrechtsregime, da gibt es keine Privatheit mehr. Die Schlinge zieht sich für jeden LGBTQIA+-Menschen vor Ort immer mehr zu. Wenn man ein bisschen Verständnis dafür hat, was da eigentlich wirklich passiert, dann erübrigte sich eine solche Bürokratie sofort. Das sind absolut realitätsfremde Fragen!“, so Hutter. „Ich befürchte, dass viele LGBTQIA+-Menschen auch jetzt nicht auf die Evakuierungslisten kommen werden, eben weil sie ihre Gefährdung nicht klar nachweisen können.“

Keine Kinder, Ehe oder wenig Bartwuchs: LGBTQIA+-Community kann nicht „im Geheimen“ leben

Wie schnell man hingehen in Afghanistan verdächtig sein kann, zeigen zahlreiche Berichte von LGBTQIA+-Personen. Spätestens ab dem zwanzigsten Lebensjahr frage sich die eigene Familie, warum der Sohn oder die Tochter nicht verheiratet ist und Kinder zeugte Oftmals reiche aber auch schon das eigene Aussehen, so Hutter: „Wenn ein Mann bei einer Straßenkontrolle nicht vollbärtig ist, sondern weichere Gesichtszüge oder auch nur weniger Bartwuchs hat, reicht das oftmals schon als ein todeswürdig aus – diese Männer werden dann verhaftet und umgebracht.“ Die oft leichtfertig geäußerte Forderung mancher Kritiker:innen, LGBTQIA+-Menschen könnten doch im Geheimen leben, ist schlicht realitätsfremd. „Selbst wenn die Sexualität nicht gelebt wird, kann man alle Hinweise auf LGBTQIA+ nicht dauerhaft verbergen.“

LGBTQIA+-Menschen in Afghanistan verstecken sich alle paar Tage an einem anderen Ort, die Unterkünfte einiger mutiger Helfer:innen werden durch die Razzien tagtäglich weniger und beinahe allen gehe das Geld aus und sie müssen hungern – und jetzt steht auch noch der Winter vor der Tür. „Die Situation verschlimmert sich von Woche zu Woche immer mehr. Es gibt schon jetzt sehr oft die Fälle, in denen queere Menschen aus Verzweiflung Suizid begehen. Bevor sie zu Tode gefoltert werden, bringen sie sich lieber selber um.“

Queere Afghan:innen müssen es nach Pakistan schaffen – „es zählt ein formales Prinzip“

Hutter nennt es einen Skandal, auch wenn er in die Bundesregierung noch eine gewisse Hoffnung setzt: „Die Leute vor Ort wurden im Stich gelassen! Das ist ethisch verwerflich. Deutschland engagiert sich aber wenigstens ein bisschen, im Gegensatz zu den USA.“

Erfolgt am Ende vonseiten der Bundesregierung übrigens eine Visa-Zusage und die LGBTQIA+-Person lebt dann noch, muss sie es aus eigener Kraft und mit eigenen Mitteln noch in die Hauptstadt Pakistans nach Islamabad schaffen. Erst dann übernimmt die Bundesrepublik und fliegt sie aus. Eine weitere Absurdität, denn Frauen beispielsweise dürfen ohne männliche Begleitung gar nicht auf die Straße, geschweige denn das Land verlassen.

Ich kann mich noch daran erinnern, dass bei den ersten Evakuierungen der Bundesregierung 2021 ein Flugzeug mit nur drei Passagieren zurückgeflogen ist, weil die anderen Menschen auf dem Rollfeld keine offizielle Berechtigung hatten. Schon damals war mir klar, es zählt nicht die Not der Menschen, sondern ein formales Prinzip.

Jörg Hutter vom queeren Verein Rat und Tat in Bremen

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