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Queere Menschen feiern Weihnachten mit der Wahlfamilie – „fühlt sich inniger an“

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Von: Michael Schmucker

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Zwei Freundinnen an Weihnachten zusammen draußen.
Einige queere Menschen feiern Weihnachten mit der selbstgewählten Familie – der Wahlfamilie. © Cavan Images/Imago

Queeren Menschen erzählen, was das Weihnachten mit ihrer Wahlfamilie in Zeiten, in denen Hasskriminalität und Übergriffe ansteigen, für sie besonders macht.

Weihnachten ganz ohne Festtagsbraten, Mutters kritischem Blick und der Frage, warum man noch Single ist? Geht das überhaupt, ist das erlaubt? Für viele queere Menschen gestaltet sich das Weihnachtsfest anders als es das klassische Bild vorsieht, in dem all die heterosexuellen Kinder brav wie im kindlichen Weihnachtslied „Ihr Kinderlein kommet“ nach Hause fahren.

Wer kurz vor Weihnachten auch in diesem Jahr mit der Bahn durch Deutschland gefahren ist, kennt die Leute, die dick bepackt und mit gläsernem Blick aus dem Fenster starrend, einer Mischung aus Sehnsucht, Kindheitserinnerungen und manchmal auch bangen Gedanken um die Frage, wer wann mit wem streiten könnte während der Feiertage.

Queere Menschen feiern mit der selbstgewählten Familie – der Wahlfamilie

Queere Menschen indes definieren nicht nur ihre Sexualität und ihre Geschlechtsidentität individuell und selbstbestimmt, sondern setzen immer öfter diese Maßstäbe auch in der Weihnachtszeit an. Während einige trotzdem klassisch zum Fest nach Hause zumeist aufs Land fahren, feiern andere mit ihrer eigenen, selbstgewählten Familie – der Wahlfamilie. Zumeist besteht das Bündnis aus fünf bis zehn Personen, die sich gemeinsam treffen, kochen, lästern und lachen – so ganz unterschiedlich sind queere Menschen dann vielleicht doch nicht.

Trotzdem ist es für viele ein anderes Gefühl von Geborgenheit, wie Daniel Mahler aus Heidelberg gegenüber BuzzFeed News DE von Ippen.Media erklärt: „Für mich fühlt es sich intensiver und inniger an, vielleicht einfach auch deswegen, weil ich mich sehr bewusst dazu entscheide, mit diesen Menschen Weihnachten zu verbringen. Dahinter steckt kein Zwang, keine unterbewusste Schuldigkeit, wie ich das von anderen Familien ab und an kenne.“

Viele Jahre lang war Daniel allerdings auch an Weihnachten zur Familie nach Bayern gefahren, bis die Mutter starb. Einige Jahre später folgte der Vater. Mit seinen drei Brüdern will sich Daniel nicht an Weihnachten treffen, auch wenn er grundsätzlich könnte.

Keiner meiner Brüder hat ein Problem mit meiner Homosexualität, aber trotzdem ist es ein anderer Umgang miteinander als im Kreis meiner queeren Freunde. Wir können freier reden, auch über intime Erlebnisse lachen oder diskutieren, es gibt gedanklich keine Schranken, weil ich weiß, ich bin hier unter Meinesgleichen.

Daniel Mahler aus Heidelberg

„Psychischer Druck treibt viele queere Menschen vielleicht auch heute noch zur Wahlfamilie“

Entwickelt hat sich der Trend zur Wahlfamilie in der LGBTQIA+-Community beinahe zwangsweise, denn erst in den letzten zwei Jahrzehnten änderte sich schrittweise die Einstellung von immer mehr Menschen mit Blick auf Schwule, Lesben oder auch trans*-Menschen. Zuvor stellte sich oftmals gar nicht erst die Frage, ob beispielsweise homosexuelle Männer an Weihnachten nach Hause kommen sollten – sie versteckten entweder ihre Sexualität vor der Familie oder waren anderenfalls in vielen Fällen nicht mehr wirklich willkommen.

Die Zusammenkunft in einer queeren Wahlfamilie war eine Notwendigkeit, wollte man nicht allein und betrübt über die Feiertage zu Hause sitzen. „Ich kenne das auch noch aus meinen jungen Jahren, als ich nach meinem Zivildienst in Heidelberg geblieben bin. Für mich als schwuler junger Mann war das eine vollkommen neue Welt. Zu Hause war ich noch nicht geoutet und spätestens an Weihnachten kam die klassische Frage auf: Wann stellst du uns deine Freundin vor, Daniel? Dieser psychische Druck treibt viele queere Menschen vielleicht auch heute noch zur Wahlfamilie.“

Anastasia Biefang will selbstbestimmt ohne feste Schablonen die Feiertage verbringen

Natürlich bedeutet ein Weihnachtsfest mit der queeren Wahlfamilie nicht zwingend ein trautes Zusammensitzen unterm Tannenbaum, viele LGBTQIA+-Menschen feiern mit ihrer Wahlfamilie auch in Clubs oder auf Partys, beispielsweise auch die trans*-Stabsoffizierin und Aktivistin Anastasia Biefang, die die letzten Jahre Weihnachten gerne im Berliner Club Berghain verbracht hat. Dieses Jahr allerdings besucht auch sie ihre Eltern: „Ich plane aber nicht, dass dies eine Tradition bei mir wird. Ich freue mich auch wieder darauf, Weihnachten mit unserer ‚chosen Family‘ zu verbringen.“

Für sie geht es ein Stück weit auch darum, selbstbestimmt ohne feste Schablonen die Feiertage zu verbringen: „Queere Weihnachten bedeuten für mich, intensiv Zeit mit unseren queeren Freunden zu verbringen, zusammen sein und abseits von tradierten Vorstellungen zu feiern. Gerne Party, ohne die emotionalen Belastungen, die Weihnachten für viele einfach mitbringt.“

Dabei betont auch Biefang, wie wichtig auch heute noch für viele queere Menschen die Wahlfamilie ist – in Zeiten, in denen die Hasskriminalität und auch die Übergriffe gegenüber queeren Menschen gerade auch in Deutschland wieder massiv ansteigen. „Unsere ‚chosen Family‘ bedeutet Halt für uns. Unsere Gemeinschaft, in welcher wir ‚wir´ sind und uns fallen lassen können, Liebe und Nähe erfahren. Und was ich ganz besonders schätze, so meine Erfahrung, dass der Konsum, den wir alle in dieser Zeit um uns herum erleben, für die meisten von meinen queeren Freunden und auch für mich, absolut keine Rolle spielt. Und auch das ist wahnsinnig befreiend.“

Gründe für Mitglieder der Berliner Fetischszene in einer kinky Wahlfamilie zu leben

Keine festgelegten Normen, wenig Pflichten, kein Konsumzwang – die queere Wahlfamilie bedeutet für viele auch Freiheit. So sieht das auch Coach Dan Apus Monoceros vom gay-BDSM.club Berlin. Gerade auch in der queeren kinky Fetisch-Community hat eine Wahlfamilie eine besonders große Bedeutung und zeichnet sich dadurch aus, dass auf emotionaler und oftmals intimer Ebene eine enge Verbindung besteht.

Kurz vor Weihnachten hat Monoceros Mitglieder der Berliner Fetischszene zum Thema Wahlfamilie befragt – in der nicht repräsentativen Umfrage gaben knapp die Hälfte der Teilnehmer:innen an, in einer Wahlfamilie zu leben oder gelebt zu haben, weitere rund 30 Prozent wünschen es sich. „Bei einer kinky Wahlfamilie handelt es sich gerade in der queeren Community zumeist um ein höheres Konstrukt, es geht um mehr als Freundschaft oder Sympathie. Wenn man sich als queerer Mensch gerade in der Fetisch-Community einer gewählten Familie angeschlossen hat, dann sind das oftmals Verbindungen, die sehr lange halten, sehr viel geben, aber auch mit Pflichten verbunden sind.“ Dabei können, müssen aber nicht, auch sexuelle Aspekte in das Gefüge der kinky Community hineinspielen.

Die drei wesentlichen Punkte, sich für eine queere Wahlfamilie zu entscheiden, waren so auch für die Befragten die Zugehörigkeit und verstärkte Akzeptanz, gerade auch als Fetisch-Liebhaber:in, die Verbundenheit, die auch Sicherheit ausstrahlt und vor allem das Wissen darum, sich vollkommen frei dafür entscheiden zu können.

Viele queere Menschen haben in ihrem Leben viele Zwänge erlebt, mussten einen Teil ihrer Persönlichkeit lange Zeit im Verborgenen oder gar nicht ausleben. Auf Menschen mit einem Faible für Fetisch trifft das noch einmal verstärkt zu. Die Freiheit der Entscheidung und die gelebte Freiheit in der queeren Wahlfamilie werden daher als extrem positive und wichtige Erfahrung gewertet.

 Dan Apus Monoceros vom gay-BDSM.club Berlin

Oftmals geben sich queere Wahlfamilien übrigens auch eigene Titel oder Spitznamen, das reicht von der „Hasenfamilie“ über die „Rosa Truppe“ bis hin zum „Rudel“.

Daniel wird dieses Jahr erneut im Kreise der Freunde feiern, tatsächlich eher klassisch mit Gänsebraten, Tannenbaum und Weihnachtssongs: „Natürlich mit Liedern von Mariah Carey! Und viel buntem Kitsch, so viel Tradition muss sein. Im Grunde passt Weihnachten mit seinen bunten Lichtern und dem ganzen Feenstaub schon immer in die queere Welt!“ 

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