Ein weiteres Problem bis heute ist der berüchtigte Paragraf 175 des Strafgesetzbuches, der bis 1994 schwulen Sex unter Strafe stellte. In den ersten drei Jahrzehnten der Nachkriegszeit fand der Paragraf nach wie vor Anwendung, rund 50.000 schwule Männer wurden auf dieser Grundlage hin verurteilt. „Die Auswirkungen des § 175 sind ein weiterer Faktor, der durch unterbrochene Erwerbsbiografien, die sich durch die soziale und strafrechtliche Diskriminierung ergeben, spürbar negativ in einer niedrigen Rente niederschlagen“, so Kringe.
Nur wenige Arbeitergeber:innen wollten in den ersten Jahrzehnten der neue Bundesrepublik Menschen einstellen, die aufgrund von „Sexualdelikten“ vorbestraft waren. Viele dieser schwulen und queeren Personen fanden oftmals über Jahrzehnte keine Festanstellung und mussten selbst trotz einer guten Ausbildung oftmals schlechtbezahlte Aushilfsjobs übernehmen.
Jörg Hutter vom Bremer Verein Rat und Tat hat sich in einigen Fällen für eine Anpassung der Rente von schwulen Männern, die noch nach dem Paragrafen 175 verurteilt worden waren, eingesetzt – in zwei Fällen auch erfolgreich und das zu einer Zeit, als die Opfer dieser menschenverachtenden Rechtssprechung noch nicht rehabilitiert worden waren – das geschah erst im Jahr 2017. Doch selbst nach diesem historischen Schritt für queere Menschen hat sich die Lage nicht automatisch verbessert.
„Ich würde definitiv allen Betroffenen raten, das einmal checken zu lassen. Das lohnt sich generell und man kann nicht davon ausgehen, dass frühere Haftzeiten, deren Opfer inzwischen rehabilitiert worden sind, automatisch auch bei den Rentenbezügen berücksichtigt oder mitgedacht wurden.“
Allerdings, so Hutter gegenüber BuzzFeed News, sei es auch wichtig, sich Hilfe von den richtigen Fachleuten zu holen. „Queere Vereine gibt es inzwischen in fast jeder größeren Stadt. Ich kann nur allen Männern empfehlen, die auch nach Kriegsende nach dem Paragrafen 175 verurteilt worden sind, nicht alleine zu versuchen, Fragen rund um die Rente oder anderweitigen Ansprüchen abzuklären. Es ist sehr sinnvoll, das mit einer professionellen Begleitung und Unterstützung eines queeren Vereins zu machen und auch bei den Behördengängen begleitet zu werden“.
Hutter appelliert zudem dafür, sich an Verbände mit Schwerpunkt LGBTQIA+ zu wenden, damit bereits von Beginn an ein Grundverständnis über die Thematik vorhanden ist. Ein weiterer Pluspunkt ist, dass jene Menschen vor Ort dann auch keine Berührungsängste damit haben, sodass nicht abermals eine Stigmatisierung von älteren Homosexuellen oder queeren Menschen stattfinden kann.
„Die Berater:innen von queeren Vereinen wissen in der Regel sehr schnell, was Sache ist und man muss sich nicht tausend Mal erst erklären – ich denke, das würde ansonsten viele queere Senioren eher erneut abschrecken.“ Auch der Verein BISS setzte sich für die Rehabilitierung der betroffenen Menschen ein, in puncto Entschädigungszahlungen konnte der Verein 110 schwulen wie auch queeren Personen erfolgreich helfen.
Die Einmalzahlungen sind allerdings eher ein symbolischer Akt, die Summe von bestenfalls einigen tausend Euro reicht nicht aus, um dauerhaft aus der Altersarmut zu kommen. Ein weiterer Aspekt für die heutige finanziell schwierige Situation vieler queerer Senioren ist ihr Leben selbst – all jenen, die nicht versteckt und brav heteronormativ lebten oder vielleicht sogar eine heterosexuelle Scheinehe eingingen, blieb eine Karriere laut Kringe vom Verein BISS oftmals verwehrt. Viele flüchteten in Jobs im Dienstleistungsbetrieb, die damals wie heute schlecht bezahlt sind.
Abseits der offensichtlichen und klar belegbaren Probleme für queere Menschen im Alter, beschäftigt die insgesamt geschätzt rund 800.000 homosexuellen und queeren Rentner:innen aber noch etwas ganz anderes – die Stigmatisierung von LGBTQIA+-Menschen. „Stigmatisierung und internalisierte Homonegativität führen bei vielen alten schwulen Männern zu einem versteckten Leben bis hin zu einem selbstverleugnenden Verhalten. Diskriminierung und Stigmatisierung von außen führt dazu, dass ältere schwule Männer die Angebote der Alteneinrichtungen in der Regel nicht wahrnehmen. Sie befürchten Unverständnis, Zurückweisung und Diskriminierung. Den Alteneinrichtungen ist in der Mehrzahl nicht klar, dass – auch wenn ihre Angebote grundsätzlich für alle offen sind – spezielle Zielgruppen, wie zum Beispiel ältere Schwule, Lesben oder Trans*Personen, eine besondere Willkommenskultur brauchen.“
Viele queere Senioren finden sich hier in einer diffusen Lage wieder: Geprägt von vielen negativen Erfahrungen und Anfeindungen rund um ihre sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität ziehen sie sich von selbst immer mehr zurück oder erwarten gar nicht erst ein positives Umfeld. Schlimmstenfalls treffen sie in Pflegeeinrichtungen dann erneut auf andere heterosexuelle Senioren, die noch immer den Hass gegen LGBTQIA+-Menschen in sich tragen. Konkrete Forschungen zum Thema Stigmatisierung gegenüber queeren Senioren gibt es hier allerdings bis heute nicht.
In seltenen Fällen kann es zudem geschehen, dass auch Pfleger:innen sich queerphob verhalten. Das komme allerdings sehr selten vor, wie Johannes meint. Der junge schwule Mann (35) arbeitet seit über 15 Jahren in verschiedenen Altersheimen in Bayern und Baden-Württemberg.
Ich habe in keinem Heim, in dem ich bis heute gearbeitet habe, jemals erlebt, dass ein queerer oder homosexueller Insasse angefeindet wurde. Der Umgang mit ihnen ist nicht anders als mit heterosexuellen Menschen, sowohl seitens anderer älterer Personen wie auch des Personals.
Johannes hört den älteren queeren Menschen gerne zu, wenn diese Lust haben zu erzählen, wie es früher für sie war. „Wenn mir ein*e Bewohner:in das erlaubt, erzähle ich diese Geschichten auch gerne in meinem Freundeskreis weiter. Zum einen macht es echt demütig und man ist sehr dankbar, was diese Menschen für uns heute erstritten haben. Zum anderen zeigt es mir aber auch, wie wichtig es ist, auch heute noch für gleiche Rechte einzutreten – gerade aber nicht nur mit Blick auf die Altersarmut. Wenn ich mal alt bin, sollte Altersarmut nicht mehr so ein großes Thema unter queeren Menschen sein!“
Damit sich etwas ändert, bedarf es aber auch dem aktiven Einbringen der queeren Senioren selbst, beispielsweise eben durch Wissensvermittlung, mehr aktiver Teilhabe und der Sichtbarmachung von älteren queeren Menschen – innerhalb wie außerhalb unserer LGBTQIA+-Community.
„Außerdem sind gerade die heute über 70-Jährigen diejenigen, die die Emanzipationsbewegung in den 70er und 80er Jahren geprägt haben. Diese Aktivisten – auch aus der Aidshilfe-Bewegung – sind auch heute wichtige Motoren, denn sie kümmern sich um das eigene Altwerden und Altsein“, so Kringe weiter, der zudem bekräftigt: „Darüber hinaus möchten wir einen Prozess anstoßen, der über das Fördertool von Demokratie leben finanziert ist, um ins Gespräch mit jungen Menschen aus den Communitys zu kommen.“
Schlagworte hierbei sind Empowerment, finanzielle Absicherung und mehr Wissen über queere Lebensweisen gerade auch in Pflegeeinrichtungen. Kringe erklärt abschließend dazu, dass die Schwulen- und Lesbenbewegung in den letzten Jahrzehnten hier schon eine gewisse Emanzipationsarbeit leisten konnte, andere Personen aus der queeren Community wie beispielsweise ältere Trans*Menschen rücken erst allmählich ins öffentliche Bewusstsein. „Auch die Art der Diskriminierung und der Stigmatisierung ist verschieden. Notwendig ist allerdings, gemeinsam Schnittmengenthemen zu erkennen und diese in den öffentlichen Raum zu bringen. Schließlich gilt immer noch: Gemeinsam sind wir stark!“