Lehrerin verweigert rassistische Abi-Pflichtlektüre – Expertin warnt vor Folgen

Der Roman „Tauben im Gras“ nutzt das N-Wort und muss bald an Gymnasien gelesen werden. Eine Expertin kritisiert, es fehle dafür an „rassismuskritischen Kompetenzen“.
Black and Indigenous People of Color (BiPoC) erleben im Alltag immer wieder Rassismus. Zum Beispiel, wenn sie über eine alte, rassistische Website zum Thema Sonnenbrand stolpern, oder, wenn beim Karneval in Düsseldorf ein Wagen vorfährt, der sich mit einem „Indianer“-Wagen über kulturelle Aneignung lustig macht.
Auch in deutschen Schulen ist Rassismus allgegenwärtig, kritisiert eine Lehrerin aus Ulm. Sie startet eine Petition gegen die Pflichtlektüre „Tauben im Gras“ von Wolfgang Koeppen. Warum? Weil sie im Roman aus der Nachkriegszeit etwa hundertmal das N-Wort entdeckte – ohne Fußnoten oder Erklärungen. Auch die Amadeu-Antonio-Stiftung kritisiert gegenüber BuzzFeed News DE, dass die Perspektive von Betroffenen „zumindest einbezogen“ hätte werden müssen.
„Tauben im Gras“ ist in Baden-Württemberg Pflichtlektüre für das Abitur 2024
Der Roman wurde 1951 veröffentlicht und ist Teil der bekannten deutschen Nachkriegsliteratur. Der Autor zeichnet darin das Leben in einer deutschen Stadt dieser Zeit nach. Ein Leben mit der Besatzungsmacht USA und einigen Schwarzen Soldaten, die im Buch oft mit dem N-Wort bezeichnet werden. An beruflichen Gymnasien in Baden-Württemberg ist dieses Buch für das Abitur 2024 nun Pflichtlektüre.
Für die Lehrerin Jasmin Blunt aus Ulm (Baden-Württemberg) sei es „einer der schlimmsten Tage“ ihres Lebens gewesen, als sie das Buch durchblättert habe, sagt sie dem Südwestdeutschen Rundfunk (SWR). Sie habe Rassismus selbst erlebt und sehe das N-Wort als Ausdruck von Unterdrückung und Entmenschlichung.
„Was man sich bewusst machen muss bei dem Thema ist, dass die Sprache tatsächlich den Rassismus transportiert – und zwar in meine Lebenswelt hinein.“ Blunt hat für sich selbst Konsequenzen gezogen. Da sie „Tauben im Gras“ in ihrem Unterricht nicht durchnehmen möchte, hat sie laut SWR für das kommende Schuljahr einen Antrag auf Beurlaubung ohne Besoldung gestellt.
Auch hochproblematisch sind die rassistischen Sticker der Jungen AfD „Black Knives Matter“.
Kultusministerium rechtfertigt sich: „Tauben im Gras“ vermittle, was Rassismus sei
Das Kultusministerium Baden-Württemberg rechtfertigt sich gegenüber dem SWR: Das Thema „Rassismus“ soll im Abitur behandelt werden. Der Roman „Tauben im Gras“ von Wolfgang Koeppen sei ein Teil der wichtigen deutschen Nachkriegsliteratur und für den Unterricht geeignet. Mit ihm könne man den jungen Menschen ganz klar vermitteln, was Rassismus sei.
Kann ein Buch, das hunderte Male unerklärt das N-Wort nutzt, Rassismus vermitteln? Das fragt BuzzFeed News DE die Amadeu-Antonio-Stiftung, die sich gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus einsetzt. Rosa Fava von der Praxisstelle rassismuskritische Jugendarbeit bezweifelt das.
Denn: Wer vermitteln wolle, was Rassismus ist, müsse zwei Punkte beachten: Erstens dürften „Feindlichkeit und Verachtung gegenüber den Gruppen nicht zu stark und zu oft reproduziert werden“ und zweitens müsse die „Perspektive von Betroffenen zumindest einbezogen werden“, so Fava. „Wenn beides gar nicht umgesetzt wird, kann Rassismus eher bestärkt werden.“
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N-Wort im Schulroman: „Schule ist nicht neutral in Bezug auf Rassismus“
„Eine so häufige Nennung erniedrigender Fremdbezeichnungen für Schwarze normalisiert diese natürlich, zumal hier kein Kontext antirassistischer Selbstermächtigung wie etwa im US-amerikanischen Rap vorliegt“, so die Rassismus-Expertin. Auf junge Menschen, die kurz vor dem Abitur stünden, könne solch eine Reproduktion „überwältigend“ wirken. „Erst recht, wenn Schüler:innen mit eigenen Rassismuserfahrungen sich dem Material nicht entziehen können, weil es prüfungsrelevant ist.“
Die „unterschwellige Botschaft“ von den immer wiederkehrenden Wiederholungen des N-Wortes im Roman könnte sich für BiPoCs so anfühle wie: „So sehen die anderen dich, da gehörst du hin“. Fava kritisiert, dass sich die Schule hier als „neutrale“ Instanz positioniere. „Schule ist nicht neutral in Bezug auf Rassismus. Im konkreten Fall geht es sogar um eine Lehrerin, die sich selbst bei der Vorbereitung in ihrer Würde angegriffen sah.“
In Schulen „fehlen auf jeden Fall in der Breite und Tiefe die rassismuskritischen Kompetenzen“, um solche Bücher aufzuarbeiten. „Wo es Melde- und Beratungsstellen für rassistische Vorfälle in der Schule gibt, zeigt sich, dass Rassismus meist von Lehrer:innen ausgeht und auf Grundlage ihrer Machtposition die größte Wirkung entfaltet“, erklärt Fava gegenüber BuzzFeed News DE.
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Warum braucht es einen nicht-Schwarzen Autor, um „Rassismus zu vermitteln“?
„Über das N-Wort muss gar nicht viel diskutiert werden, da gibt es in Deutschland keine Schwarze Community, die darin eine empowernde Selbstbezeichnung sehen würde, anders etwa als bei ‚Kanake‘, das viele junge Menschen für sich gebrauchen“, sagt Fava von der Amadeu-Antonio-Stiftung. Gegenüber BuzzFeed News DE stellt sie infrage, ob es denn unbedingt Literatur eines nicht-Schwarzen Autors brauche, um „Rassismus zu vermitteln“.
„Die Geschichte des Rassismus Schwarze Besatzungssoldaten und ihre Kinder lässt sich auf unterschiedliche Art und Weise behandeln, es gibt viel Literatur dazu, die von Schwarzen Deutschen selbst geschrieben wurde“, so Fava. „Man kann heute nicht mehr ‚vermitteln, was Rassismus ist‘, ohne mit Betroffenen in den Austausch zu gehen und sie in antirassistische Entwicklungsprozesse einzubeziehen.“
Man kann heute nicht mehr ‚vermitteln, was Rassismus ist‘, ohne mit Betroffenen in den Austausch zu gehen und sie in antirassistische Entwicklungsprozesse einzubeziehen.
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