In den darauffolgenden Tagen dachte ich nicht nur über die mentale Gesundheit meines Onkels nach, sondern auch über meine eigene. Mit zwölf Jahren versuchte ich schon einmal, mich umzubringen. Doch weil psychische Krankheiten in der BIPOC-Community so stigmatisiert sind, habe ich nie darüber gesprochen. Die einzigen Menschen, die davon wissen, sind meine näheren Familienmitglieder.
Damals habe ich mich geschämt, dass ich depressiv war und dass etwas mit mir nicht stimmte. Doch genau das, sollte man nicht, sagt auch Hazel Brugger in einem Instagram-Post und spricht offen über ihre Depressionen. Mein Heimumfeld war stabil und ich hatte Unterstützung von meiner Familie und trotzdem habe ich mich miserabel gefühlt. Anstatt mich meiner Familie anzuvertrauen oder jemandem in einer Therapie davon zu erzählen, habe ich so getan, als ob alles vollkommen in Ordnung wäre.
Danach hatte ich mit Gefühlen wie Schuld und Scham zu kämpfen. So wie ich es sah, gab es schwerwiegendere Probleme auf der Welt als eine Zwölfjährige mit psychischen Problemen. Obwohl meine Eltern nie direkt zu mir gesagt haben, dass meine mentale Gesundheit nicht wichtig war, fühlte ich mich, als ob ich nicht nach Hilfe fragen konnte. Wenn eine Mitschülerin nicht bei der Polizei angerufen hätte, um nach mir zu sehen, wäre ich sehr wahrscheinlich nicht mehr am Leben.
Als ich von meinem Onkel erfuhr, wünschte ich mir, ich hätte mich öfter gemeldet und ihm erzählt hätte, womit ich zu kämpfen habe. Vielleicht hätte das dazu geführt, dass ich mehr Zeit mit ihm gehabt hätte – weil meine Offenheit in ihm selbst etwas bewegt hätte.
Die BIPOC-Community (BIPOC steht für Black, Indigenous, und people of color) scheut sich oft davor, Unterhaltungen über mentale Gesundheit zu führen. Es ist ein stigmatisiertes Thema unter Schwarzen Menschen in den USA.
Laut einer Studie aus dem Jahr 2013, die mit 272 afroamerikanischen Männern und Frauen zwischen 25 und 72 Jahren durchgeführt wurde und im Magazin „Nursing Research“ veröffentlicht wurde, gaben 30 Prozent an, eine psychische Krankheit zu haben – zumeist Depressionen. Überhaupt fiel es den Menschen schwer, psychische Probleme im Allgemeinen anzuerkennen, sie machten sich Gedanken über Stigmata und waren offener dafür eingestellt, Religion zur Bewältigung zu nutzen, als professionelle Hilfe.
Misstrauen gegenüber dem Gesundheitswesen ist ein großer Grund, warum viele keine Therapie anfangen wollen oder gar als Option in Betracht ziehen. Jahrzehnte mit Rassismus und Diskriminierung in der Medizin (vor allem in Amerika), inklusive bei mentaler Gesundheit, sind gut dokumentiert.
„Wir haben eine Menge kulturelles Misstrauen in medizinische und psychologische Fachkräfte“, so Doktor Thomas Vance, der als Aushilfs-Professor an der „New School“ und als Therapeut arbeitet. In den 1800er-Jahren erfanden Psychologen wie Samuel Cartwright absichtlich falsche psychische Erkrankungen wie Drapetomanie und Dysaesthesia aethiopica, um die Fluchtversuche von versklavten Menschen als geistige Krankheit bezeichnen zu können. Diese schädlichen Diagnosen, mit denen die Schwarze Bevölkerung kontrolliert werden sollte, wurden erst Jahrzehnte später angefochten oder aufgearbeitet.
In der Kritik steht deswegen die Serie „Bridgerton“, denn sie zeigt nicht, wie hart das Leben für Schwarze Menschen im historischen Großbritannien oder in den USA war.
Da das Gesundheitswesen in der Vergangenheit kein sicherer Ort für die Schwarze Bevölkerung im Hinblick auf Diagnose und Behandlung von psychischen Problemen war, hielten viele die religiöse oder familiäre Unterstützung für sicherer und akzeptabler als die traditionelle psychiatrische Versorgung. Hinzu kommt, dass der Mangel an Krankenversicherungen in den USA oder mangelnde finanzielle Mittel für viele Schwarze Menschen ein Problem darstellt, sich Hilfe zu suchen.
Viele wissen auch nicht, wie sie nach Hilfe fragen können und infolgedessen leiden sie still vor sich hin. Als ich aufwuchs, hörte ich ablehnende Kommentare wie „du übertreibst“ oder „bete einfach dafür“, wenn ich das Bedürfnis äußerte, eine Pause für meine psychische Gesundheit zu brauchen.
Als Zwölfjährige an einer öffentlichen Schule in New York wandte ich mich am Tag vor meinem Selbstmordversuch an die Schultherapeutin. Man sagte mir, sie sei zu beschäftigt und ich solle morgen wiederkommen.
Obwohl ich damals in Therapie war, fühlte ich mich nicht ganz wohl dabei, meine Gefühle mit meiner Therapeutin zu teilen. Sie bemühte sich zwar nach Kräften, warmherzig und einladend zu sein, aber als Weiße konnte sie viele der Hindernisse, mit denen ich zu kämpfen hatte, nicht ganz verstehen oder nachempfinden. Ein:e Schwarze Therapeut:in zu finden, kann sehr herausfordernd sein. Zunächst musst du jemanden finden, der durch deine Versicherung abgedeckt ist und dann kommt noch dazu, dass die Anzahl der Schwarzen Therapeut:innen verheerend niedrig ist.
Laut der American Psychological Association sind nur 4,24 Prozent der Psycholog:innen in den USA von afroamerikanischer Abstammung (Psycholog:innen machen ungefähr ein Drittel der gesamten Mental-Health-Fachkräfte aus; Therapeut:innen können auch Berater:innen für Drogenmissbrauch, lizenzierte klinische Berater:innen, lizenzierte klinische Sozialarbeiter:innen oder Ehe- und Familientherapeut:innen sein).
Die Loveland Foundation hat sich zum Ziel gesetzt, „PoC-Communitys Chancen auf Heilung zu bieten“, insbesondere Schwarzen Frauen und Mädchen. Ein Therapiefond trägt zur Deckung der Kosten bei. Andere Organisationen wie Therapy for Black Girls und Black Men Heal versuchen, diese Kluft zu überbrücken und mehr Schwarze Personen aller Altersgruppen dazu zu bringen, eine Therapie auszuprobieren.
„Alles fing mit uns an, und ein paar Therapeut:innen, die ihre Zeit opferten und Büroräume zur Verfügung stellten, um zu ermöglichen, dass dieses Projekt durchgesetzt werden kann“, sagte Zakia Williams, Mitgründerin und leitende Geschäftsführerin von Black Men Heal. „Black Men Heal“ wurde 2018 gegründet, um Schwarzen Männern auf dem Weg zu einer besseren psychischen Gesundheit zu begleiten. Leider werden Männer oft dazu gedrängt, ihre Emotionen nicht zu zeigen – nicht nur in der BIPOC-Community, sondern generell. Ein positives Vorbild setzten hier diese Promis, die über psychische Gesundheit sprechen.
„Wir sagen unseren Jungs, dass Emotionen zu zeigen, feminin ist. Also wachsen sie auf und zeigen keine Emotion“, sagte Williams. „Wir versuchen, Männer dazu zu bewegen, über ihre Gefühle zu sprechen und verletzlich zu sein, aber oft wurde es schon so lange generationenübergreifend in ihnen verankert, dass sie sofort abblocken.“ Ein veraltetes Männerbild, findet Männlichkeitsforscher Rolf Pohl. Da die Suizidrate von Schwarzen Männern zwischen zehn und 19 Jahren in den vergangenen 20 Jahren um 60 Prozent angestiegen, zielt „Black Men Heal“ darauf ab, diese Zahlen zu senken, indem sie Therapie entstigmatisieren.
Therapy for Black Girls ist eine andere Organisation, die Hilfsmittel und Unterstützung bietet, um Menschen an eine Therapie zu führen. „Meine Hauptgruppe wird immer aus Schwarzen Frauen bestehen, weil wir so ziemlich die Stützen der Community sind“, so Krystal Miller, Sozialarbeiterin und Besitzerin von „Melanated Mask“.
„Melanated Mask“ ist ein Zentrum für psychische Gesundheit in New York, das sich darauf konzentriert, ganzheitliche Praktiken für die mentale Gesundheit von BIPOC-Personen anzubieten. Das Zentrum bietet spezielles Yoga zur Traumabewältigung an, integratives Coaching für mentale Gesundheit, pflanzliche Lösungswege und Psychotherapie, um Menschen zu unterstützen.
Die Ärztin Princess Dennar kämpfe in den USA gegen Rassismus in der Medizin und verlor deshalb ihren Job.
Seit 2018 hat Millers Klinik mit „Therapy for Black Girls“ geworben in der Hoffnung, dass BIPOC-Personen jeglichen Alters sich angesprochen fühlen und von der unglaublichen Macht von Therapie profitieren können.
„Ich wusste irgendwie schon immer, dass ich das machen möchte. In meiner Highschool in Queens habe ich Klassenkamerad:innen betreut“, sagte Miller. Ein Großteil von Millers Arbeit ist Schwarzen Frauen gewidmet, da sie oft so angesehen werden, als ob sie Gemeinschaften zusammenhalten. Frauen erkranken mit doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit an Depressionen, trotzdem suchen sich im Vergleich mit weißen Frauen nur halb so viele Schwarze Frauen Hilfe.
„Eine Frage, die ich immer gestellt habe, wenn ich Workshops für BIPOC-Frauen gegeben habe, war: ‚Wann war das letzte Mal, dass du deine Mutter weinen gesehen hast?‘ Viele können die Frage nicht beantworten“, sagte Miller. „Deine Mutter ist ein Mensch. Sie hat Gefühle. Aber sie muss sich zusammenreißen, damit sie anderen helfen kann.“
Schwarze Vorbilder in Filmen und Serien zu haben ist wichtig, da es Menschen das Gefühl gibt gesehen zu werden und, dass auch ihre Probleme thematisiert werden sollten.
Eine Therapie kann auch Millionen von Schwarzen US-Amerikanern im ganzen Land helfen, die Alltags-Rassismus erlebt haben.
„Oft ermutigen wir die Leute, einfach mit jemandem zu reden, aber wir vergessen, dass wir ein generationenübergreifendes Trauma haben, das weitergegeben wurde“, sagte Miller.
Als versklavte Menschen emotional, körperlich und sexuell traumatisiert wurden und dann ohne psychologische oder wirtschaftliche Hilfeleistung befreit wurden, verursachte dies ein Trauma, das über die Generationen hinweg nachwirkt, schreibt Joy DeGruy in ihrem Buch „Post Traumatic Slave Syndrome“.
„Weil sie gefangen gehalten, missbraucht, vergewaltigt und verstümmelt wurden, um wirtschaftlichem Reichtum zu dienen, zeigen auch Nachkommen der versklavten Menschen Anzeichen dessen, was man am besten als PTSD (posttraumatische Belastungsstörung) bezeichnen kann“, schreibt sie.
Während der Black-Lives-Matter-Proteste im Jahr 2020 waren Milliarden von Schwarzen Menschen auf der ganzen Welt den traumatischen Bildern ausgesetzt, die Polizeigewalt gegen Schwarze, zeigten. Zwischen dem 25. Mai 2020 und dem 5. Juni wurden Inhalte im Zusammenhang mit Black Lives Matter über 1,4 Milliarden Mal in den sozialen Medien aufgerufen. Die Berichterstattung und die oft unzensierten Videos und Bilder haben Generationen von Menschen in der Schwarzen Community retraumatisiert.
„Einige Menschen fanden es gut, dass diese Themen endlich auf internationaler Ebene geführt wurden, aber bei anderen hatte es drastische Auswirkungen auf ihre psychische Gesundheit“, so Vance. „Nun tauchen Begriffe wie ‚Racial Trauma‘ auf, und wir fangen an, mit ihen vertraut zu werden. Es ist nicht einfach nur ein Trauma, das eine Person erlebt, es ist ein Trauma über Menschengruppen hinweg, das für Schwarze, Indigene und People of Color ganz anders ist, da es sich speziell auf sie auswirkt.“
Auch in Deutschland gibt es institutionellen Rassismus.
Die Entstigmatisierung der Sprache ist eine der einfachsten Möglichkeiten, Therapie ansprechend zu machen. Wenn man sich gegen Phrasen wie „er/sie ist verrückt“ oder „Therapie ist nichts für Schwarze Menschen“ wehrt, kann dies dazu beitragen, das soziale Stigma, das der Therapie anhaftet, aufzubrechen und es folglich für manche weniger beängstigend erscheinen zu lassen.
„Wir müssen die Medien zur Verantwortung ziehen, wenn sie stigmatisierende Sprachmittel verwenden“, sagte Vance. „Wir brauchen mehr Fachleute für psychische Gesundheit, die diese Gespräche in öffentlichen Räumen führen.“
Als ich als Zwölfjährige in Therapie war, fühlte ich mich nicht ganz wohl dabei, alle meine Gefühle auszudrücken. Jetzt, wo ich 23 bin und eine Therapeutin habe, die so aussieht wie ich und die meine Erfahrungen nachvollziehen kann, kann ich sagen: Es wirkt wirklich Wunder.
Genauso wichtig ist es für Schwarze Menschen, offen Unterhaltungen über kulturelle Aneignung zu führen.
„Man muss sich mit seiner Therapeutin oder seinem Therapeuten wohlfühlen“, sagte Williams. „Das ist der Grund, warum „Black Men Heal“ ein solcher Erfolg ist. Schwarze Menschen nehmen nicht viel Raum ein. „Black Men Heal“ schaut deshalb genauer hin und ordnet Menschen nicht nur aufgrund ihrer Hautfarbe zu, sondern berücksichtigt auch ihr Umfeld, ihre Geschlechtsidentität und eine Vielzahl anderer Faktoren.
Es ist auch völlig normal, wenn du und dein:e erste:r Therapeut:in nicht perfekt zueinander passen. Es kann zwei oder drei Anläufe brauchen, bis man jemand findet, mit dem man sich wohlfühlt. „Wenn du das Gefühl hast, dass du dich bei jemandem in der Therapie nicht wohlfühlst, ist es in Ordnung, noch einmal von vorne anzufangen, bis du die richtige Person gefunden hast“, so Williams.
Es ist nicht leicht, die sozialen Stigmata zu überwinden, wenn es um Therapie geht. Aber wenn man erste Schritte unternimmt, um herauszufinden, welche Bedeutung Therapie für einen selbst haben kann, kann das den Unterschied ausmachen. Therapie ist eine Notwendigkeit, zu der alle Schwarzen Menschen, unabhängig von ihrem finanziellen Status, Zugang haben sollten.
Sie mag als beängstigend und beschämend empfunden werden, aber sie ist das genaue Gegenteil. Egal, in welcher Phase des Lebens man sich befindet, man wird immer wieder auf Probleme stoßen. Eine unvoreingenommene Person, die dir zuhört und dir hilft, diese Probleme zu lösen, kann wirklich einen großen Unterschied machen.
„Vor allem wir als Schwarze Frauen sind die emotionalen Erben der sieben Generationen vor uns und wir geben unseren Ballast an sieben nachfolgende Generationen weiter“, sagte Williams. „Was wollen wir also für diejenigen verändern, die nach uns kommen?“
Das Gespräch im Studentenwohnheim vor zwei Jahren war, glaube ich, ein Weckruf für mich. Ich habe meine psychische Gesundheit vernachlässigt und ich habe das Thema „Therapie“ verdrängt, aber der Tod meines Onkels zwang mich, das neu zu überdenken.
Es kann nervenaufreibend sein, Hilfe zu suchen und zum ersten Mal darüber zu sprechen, was einen bedrückt. Aber: Wenn es dein Leben oder das eines geliebten Menschen rettet, kann ich dir versprechen, dass es das absolut wert ist.
Wenn du Suizidgedanken oder andere psychische Problem hast, bitte kontaktiere die Telefonseelsorge Deutschland, die unter der Nummer 0800 1110111 erreichbar ist. Weitere Hilfsangebote findest du bei der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Therapeut:innen in deiner Nähe kannst du auf therapie.de suchen.
Autorin ist Gabrielle Chenault. Der Artikel erschien am 4. November 2022 auf buzzfeednews.com. Aus dem Englischen übersetzt von Lea Samira Maier.