Russische Influencer:innen zerschneiden ihre Chanel-Taschen - aus Protest gegen „Russophobie“

Influencer:innen in Russland zerschneiden ihre Chanel-Taschen, um gegen die Sanktionen zu protestieren. Das Label verkauft nicht mehr in Russland.
Als Ende Februar globale Nachrichtenagenturen berichteten, dass russische Soldaten Frauen in besetzten Gebieten der Ukraine vergewaltigen, teilt die 24-jährige Influencerin Elvina Borovkova ein Video, in dem sie erklärt, dass sie die Geschichte nicht für wahr hält.
„Russische Frauen sind die schönsten Frauen der Welt, und wohl oder übel sind unsere Soldaten unter ihnen sehr gefragt“, sagt Borovkova im Video. „Glaubt ihr wirklich, dass sie ukrainische Frauen brauchen? Es ist doch eklig, sie auch nur anzufassen, sie haben alle Geschlechtskrankheiten.“
Das Video (siehe unten), in dem Borovkova weitaus explizitere und anschaulichere Details verwendet, um sexuelle Übergriffe und Beleidigungen ukrainischer Frauen zu beschreiben, ging sofort viral.
Seit diesem Video bekommt die russische Influencerin Gegenwind – jetzt ist sie auf Telegram
Vor dem Krieg, in dem laut Schätzungen der United Nations mindestens 3675 Menschen verletzt oder getötet wurden, hatte Borovkova eine steile Karriere auf Social Media hingelegt. Ihrem Instagram-Account folgen gut 30.000 Follower:innen, mit TikTok erreicht sie über 637.000 Fans, hat jetzt schon 30,9 Millionen Likes. Ihr wachsendes Publikum schaut sich Videos an, in denen sie tanzt, lustige Grimassen schneidet und respektlose Witze über Russlands Konflikte mit dem Rest von Europa macht.
Aber seit ihrem Kommentar zur Ukraine fordern einige Anhänger:innen, sie zu doxen [Das Veröffentlichen personenbezogener Daten, zumeist mit bösartigen Absichten, Anm. d. Red.] oder ihren Account zu sperren. Seitdem veröffentlicht Borovkova ihre Inhalte ausschließlich auf Telegram, wo sie 55.000 Abonnenten hat.
Über den Krieg in der Ukraine lässt Russland seine Einwohner:innen im Dunkeln – dank Roskomnadzor, der föderalen Behörde, die für die Überwachung, Kontrolle und Zensur der Massenmedien im Land zuständig ist. Russlands Verbot von Meta, zu dem Facebook und Instagram gehören, sowie Google News und hunderten von Nachrichtenagenturen, die über Gräueltaten in der Ukraine berichten, hat ein Informationsvakuum geschaffen. Es wird von staatlich geförderten Medien und russischen Influencer:innen gefüllt, deren Meinungen mit der pro-russischen Parteilinie konform gehen.
Putin und Influencer:innen stellen sich selbst als Opfer dar
Sowohl Putin als auch russische Influencer:innen sehen zunehmende Wirtschaftssanktionen gegen das Land als Beweis für ihre Viktimisierung und Verfolgung. In einer Rede im Februar, kurz nach der Invasion, sagte Putin, westliche Sanktionen würden „ungeachtet der Lage in der Ukraine“ mit dem einzigen Ziel verhängt, „die Entwicklung Russlands [...], nur weil wir existieren“ einzudämmen. Als im März angesichts des Krieges und aus Solidarität mit der Ukraine, Sport- und Kulturveranstaltungen von Russ:innen weltweit abgesagt wurden, behauptete Putin, der Westen versuche, „ganze 1000 Jahre Kultur zu vernichten“, und verglich dies mit den 1930er-Jahren, als die Nazis in Deutschland „unerwünschte Literatur“ verbrannten.
Diese Woche hat Anna Kalashnikova, eine Sängerin und Schauspielerin auf Instagram (wo sie 2,4 Millionen Follower:innen hat) über ihre eigenen Erfahrungen mit „Russophobia“ gesprochen, als sie einen Chanel-Laden in Dubai betreten und erfahren hatte, dass die Marke ihre Taschen nicht mehr an russische Staatsbürger:innen verkauft. Kalashnikova, ein bekennender Fan von Chanel, sagt, der Vorfall habe sie daran erinnert, dass Coco Chanel „die Geliebte eines Nazis“ gewesen sei und dass die Aktionen der Marke „Faschismus und Russophobie unterstützen“.
Auch andere russische Influencer:innen wie Model Victoria Bonya (die 9,3 Millionen Follower:innen auf Instagram hat) und Fernsehmoderatorin Maria Ermoshkina (300.000 Follower:innen) luden Videos hoch, in denen sie Chanel-Taschen zerschneiden, um gegen das „respektlose Verhalten“ von Chanel zu protestieren.
Das Massaker von Butscha soll von der Ukraine inszeniert worden sein
Als Reaktion auf die jüngsten Nachrichtenberichte, Fotos und Videobeweise des Massakers in Butscha, behauptet Borovkova, die Todesfälle seien von Ukrainer:innen inszeniert worden, die versuchen, Russ:innen für eine „vorgetäuschte Gräueltat“ verantwortlich zu machen. Diese Aussage ähnelt der von Dmitry Peskov, Sprecher des Kremls. Er sagte Reporter:innen: Was in Butscha geschah, war „eine gut inszenierte – aber tragische – Show“ und „eine Fälschung, die darauf abzielt, die russische Armee zu verunglimpfen“.
In unserem Fake-News-Ticker klären wir über diese Falschaussagen auf.
Telegram ist das wichtigste soziale Netzwerk für russische Influencer:innen
Im März, als Roskomnadzor Meta verboten hat, luden russische Influencer:innen tränenreiche Videos hoch, in denen sie ihrem Publikum Lebewohl sagten und um den Verlust ihrer Lebensgrundlage und Plattformen trauerten.
Während der Krieg gegen die Ukraine andauert, haben viele dieser Influencer:innen eine begeisterte Anhängerschaft auf Telegram gefunden, ein Messenger-Dienst, welcher in Russland und der Ukraine schon vor der Invasion sehr beliebt war. Die App ist bekannt für den selbstlöschenden „geheimen Chat“, setzt keine Grenzen bei der Größe von geteilten Medien und lässt bis zu 200.000 Personen in einem Chatroom zu. Das ist viel mehr als bei WhatsApp, das bis zu 256 Personen in einer Gruppe erlaubt, und Signal, welches Gruppenchats auf 1000 Personen begrenzt.
„Ich liebe mein Land, nicht eures“
Für Veronika Stepanova, eine russische Psychologin und Sexualtherapeutin mit mehr als zwei Millionen Follower:innen auf YouTube, bot Telegram die Möglichkeit, weiterhin ein breites Publikum zu erreichen. Kurz nach der russischen Invasion hat Stepanova begonnen, pro-russische-Inhalte auf ihrem Telegram-Kanal zu teilen und behauptet, ihre ukrainischen Anhänger:innen seien bestürzt über ihre Posts in der App gewesen.
„Liebe Ukrainer: Ich liebe mein Land, nicht eures“, schrieb sie auf ihrem Telegram-Kanal. „Ich liebe mein Volk, nicht eures. Ich liebe meine Familie, nicht eure. Mir ist wichtig, was mit meinem Land passiert, nicht mit eurem. Ich mache mir Sorgen um meine Armee, nicht um eure. Ich unterstütze meinen Präsidenten, nicht euren. Meins ist mir wichtiger als eures. Also erwartet nicht das Unmögliche von mir.“
Russische Influencer:innen äußern sich nicht nur zum Krieg in der Ukraine
In den folgenden Wochen äußerte sich Stepanova mehrmals am Tag über eine breite Anzahl von Themen: Das Corona-Virus sei „eine Regierungsverschwörung“, sagt sie. Will Smiths Angriff auf Chris Rock war eine feige, links-motivierte Hollywood-Verschwörung, um Menschen dazu zu bringen, sich die Oscars anzuschauen und die Zuschauer:innen davon zu überzeugen, dass amerikanische Männer in der Lage wären, ihre Frauen zu beschützen. „Nur ein schwarzer, taubstummer Transgender-Zwerg bekommt heute einen Preis für einen Film“, schrieb sie nach der Oscar-Verleihung.
Die Verachtung der russischen Influencer:innen auf Telegram für das, was sie als „linke Werte“ bezeichnen, spiegelt eine Online-Bewegung wider, die auf der ganzen Welt agiert, von den Propaganda verbreitenden Trollfarmen in Südasien und Afrika bis hin zur Alt-Right, also den Rechtsextremen, in den USA.
Zu den gemeinsamen Themen gehören die Untergrabung der Medien und der häufige Gebrauch von sexuell expliziter, gewalttätiger und homophober Sprache. Gleichzeitig berufen sich Menschen der Bewegung auf eine Form von tugendhaften „Familienwerten“, von denen sie behaupten, dass sie von autoritären Persönlichkeiten wie Putin, Modi oder Trump vorgelebt werden.
Der Einfluss, den Influencer:innen auf die russische Bevölkerung haben, ist groß
Diese Aussagen über den Krieg, unterbrochen von Make-up-Empfehlungen, Memes und Life-Hacks, mögen wie ein fester Bestandteil unserer Zeit erscheinen. Sie sind nicht anders als der wohlmeinende Onkel oder die Tante, die hasserfüllte WhatsApp-Videos und Falschinformationen in den Familiengruppenchat schicken. Manchmal werden sie konfrontiert, manchmal aber auch einfach ignoriert oder ihnen wird sogar zugestimmt.
Nun stelle man sich vor, dass der Onkel oder die Tante diese Nachrichten in einem Land teilen, das fast alle sozialen Netzwerke, Google News und Hunderte von Medienkanälen, die die russische Invasion beschreiben, verboten hat. Sie werden ohne Gegenmeinung an 395.300 Abonnenten in einem Telegram-Chat oder an Millionen auf Instagram oder YouTube schickt.
Nur dass die Person, die das postet – kein technisch überforderter Onkel oder eine Tante ist, sondern eine große und äußerst beliebte Berühmtheit. So wie Roma Acorn, ein 26-jähriger Sänger, der in Russland mit Justin Bieber verglichen wird und auf Instagram 373.000 Follower:innen hat oder Mikhail Litvin, ein selbsternannter „Prankster“, der 14,6 Millionen Follower:innen auf Instagram und 8,76 Millionen Fans auf YouTube hat.
Das Narrativ über Russland als Opfer wird von vielen Influencer:innen geteilt
Acorn, der russische Justin Bieber, hat kürzlich ein Video auf seinem YouTube -Kanal gepostet, in dem es darum geht, dass Russ:innen der Zutritt zu Restaurants verweigert wird und sie auf der Straße angegriffen werden.
„In Deutschland werden Russ:innen vernichtet, sie wollen uns verbrennen, uns alle töten“, sagt Acorn im Video, nippt an einem Energydrink und schüttelt traurig den Kopf, während er mit einem Hund spielt. „Verletzt euch irgendjemand, Ukrainer? Niemand tut das. Das russische Volk wird gerade zerstört, und alle unterstützen es, sagen, dass wir bombardiert und getötet werden sollten.“
Litvin, der bekannte russische Witzbold, fasste kürzlich seine trotzige Haltung gegenüber seinen 1,6 Millionen Follower:innen auf Telegram zusammen. „Ich spreche nicht einmal von Sanktionen, sondern von der allgemeinen Meinung. [...] Alle, die sagen, dass Russland sich schämen sollte oder dass man sich schämt, Russ:in zu sein, können meinen verdammten Schw*nz l*tschen.“
Noch mehr zum Thema Russland und Ukraine? Hier erklärt ein Militärexperte, was hinter den weißen Armbinden stecken könnte, die Zivilist:innen in Butscha trugen.
Autorin ist Nishita Jha. Dieser Artikel erschien am 07. April 2022 auf buzzfeednews.com. Aus dem Englischen übersetzt von Max Kienast.