Ukraine: Russland legt es auf Eskalation an - „Europa am Rande eines Krieges“

Wladimir Putin erteilt der Diplomatie eine Absage und schickt russisches Militär in den Osten der Ukraine.
Die Hoffnung auf den Erfolg der Diplomatie in der Ukraine-Krise hat sich zerschlagen. Am Abend des 21. Februars hat der russische Präsident Wladimir Putin einen folgenschweren Schritt vollzogen, den er aus guten Gründen jahrelang vermieden hatte. Er hat die zwei separatistischen „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk, die prorussische Rebellen 2014 im Osten der Ukraine gegründet haben, offiziell anerkannt. Die Ratifizierung durch die Duma, das russische Parlament, erfolgte heute Vormittag. Russland ist nach Syrien erst der zweite Staat, der diese völkerrechtswidrig auf kriegerischem Wege in der Ostukraine errichteten Separatistengebiete als souveräne Staaten anerkannt hat.
Das allein stellt schon einen massiven Bruch des Völkerrechts dar, wie es Norbert Röttgen in der Sendung „Hart aber fair“ sagte. Das Minsker Abkommen von 2015, mit dem der kriegerische Konflikt in der Ostukraine beigelegt werden sollten, ist damit endgültig tot oder „vernichtet“, wie es Bundespräsident Steinmeier laut tageschau.de am Dienstagnachmittag ausdrückte. Damit falle nun die letzte Grundlage für diplomatische Dialoge weg, was einer „Suche nach Konfrontation“ gleichkomme, so das deutsche Staatsoberhaupt.
Dabei belässt es Putin aber nicht. Die „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk, die seit 2014 einen permanenten Stellungskrieg gegen ukrainische Truppen führen, haben Russland auch um militärischen Beistand gebeten. Den erhalten sie nun: Unmittelbar, nachdem er die entsprechenden Verträge unterschrieben hatte, beorderte Putin russische Truppenverbände nach Donezk und Luhansk, offiziell zur Friedenssicherung. Damit dringt Russland jetzt militärisch in ukrainisches Hoheitsgebiet ein, denn nach internationalem Recht sind diese „Volksrepubliken“ weiterhin integrale Bestandteile des Territoriums der Ukraine.
Scharfe Sanktionen angekündigt - Nord Stream 2 wegen Ukraine gestoppt
Diese angebliche Friedensmission ist also nichts anderes als eine getarnte Invasion der Ukraine. Die britische Regierung hat das heute Morgen auch deutlich ausgedrückt: Aus der Anerkennung der ostukrainischen Separatistengebiete schließe man, „dass die Invasion der Ukraine begonnen hat“, so der Gesundheitsminister Sajid Javid gegenüber Sky News. London kündigte Sanktionen an, US-Präsident Biden verbot bereits gestern Abend US-Bürgern jeden Handel in und mit Donezk und Luhansk. Mittlerweile spricht auch die US-Regierung von einer „Invasion“, denn dies sei, „was gerade passiert“, wie die ARD berichtet.
Die Stimmen nach weiteren scharfen Sanktionen werden immer lauter, die EU und die USA wollen sich hierin gemeinsam abstimmen. Der Westen betonte stets, dass eine Invasion der Ukraine durch Russland erhebliche Sanktionen von nie dagewesener Härte zur Folge haben würde. Ob aber alle beteiligten Seiten diesen Fall bereits bei einem Truppeneinmarsch in die ostukrainischen Separatistengebiete erfüllt sehen, ist noch unklar. Der Sprachgebrauch der USA deutet in diese Richtung. Auf jeden Fall wird es eine Reaktion vonseiten des Westens geben, da dieser krasse Bruch internationalen Rechts nicht unbeantwortet bleiben kann. „Es wird eine entschiedene, eine abgestimmte Antwort der Europäer mit den Amerikanern geben“, sagte der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil nach Informationen des Tagesspiegels am Dienstag in Berlin.
Bundeskanzler Olaf Scholz bekräftigte diese Haltung und kündigte auf einer am Dienstagmittag eigens einberufenen Pressekonferenz an, mit den westlichen Partnern „eng abgestimmt, gut koordiniert und zielgerichtet“ vorzugehen. Man werde „ein klares Signal an Moskau senden, dass solche Handlungen nicht ohne Konsequenz bleiben“, wie tagesschau.de berichtet. Dass er es ernst meint, machte er auf derselben Pressekonferenz deutlich: Er verkündete den Stopp der Gaspipeline Nord Stream 2, seit Jahren ein Zankapfel im Streit der westlichen Partner untereinander und ein Herzensanliegen der SPD. Nun liegt dieses umstrittene Projekt, das billige Erdgaslieferungen von Russland in die EU gewährleisten sollte und auch für Russland von großer wirtschaftlicher Bedeutung ist, auf Eis.
Internationaler Aufschrei über Russlands Vorgehen in der Ukraine
Dass der SPD-Kanzler Scholz nun dazu bereit ist, auch Nord Stream 2 zu opfern, verdeutlicht die Entschlossenheit der Bundesregierung, den russischen Präsidenten Putin in die Schranken zu weisen. Das kommt nicht von ungefähr: Die Empörung über Russlands Vorgehen ist weltweit groß, die Gefahr einer militärischen Eskalation zwischen der Ukraine und Russland so groß wie nie zuvor seit 2014. Der tschechische Regierungschef Petr Fiala spricht von einem „Akt der Aggression gegenüber einem souveränen Staat“ und sieht „Europa am Rande eines Krieges“. Finnlands Präsident Sauli Niinistö prophezeit eine weltpolitisches Klima „kälter als während des Kalten Krieges“, wie tagesschau.de beide Staatsmänner zitiert. Die Russland-Expertin Sarah Pagung von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik sprach am Montagabend bei „Hart Aber Fair“ davon, dass die „Kriegsgefahr enorm hoch ist“.
Der niederländische Premierminister Mark Rutte nannte Putin am Montagabend in einer TV-Talkshow sogar „total wahnsinnig“, wie die Deutsche Presseagentur meldete. Ruttes harsche Worte sind von der Realität wohl gar nicht so weit entfernt. Beobachter:innen wie die Russland-Korrespondentin der ARD Ina Ruck wollen zwar das Wort „besessen“ nicht in den Mund nehmen, aber es kommt ihnen offenbar in den Sinn, wenn sie die Person Wladimir Putin und dessen Agieren in jüngster Zeit umschreiben wollen. Tatsächlich offenbarte er in seiner Rede zur Begründung der Anerkennung der ostukrainischen Separatistengebiete eine ganz eigene Sicht auf die Welt, die offenbar noch völlig in Vorstellungswelten sowjetischer Zeiten befangen ist.
Gestützt auf langen Ausführungen zur Geschichte der Ukraine, sprach Putin ihr jede eigene Staatlichkeit ab. Für ihn ist die Ukraine immer ein integraler Bestandteil Russlands gewesen und wird es auch immer bleiben. Während das in historischer Hinsicht durchaus zutreffend ist - hier ein kleiner Exkurs in die gemeinsame Geschichte der Ukraine und Russland von MrWissen2go -, verkennt diese wirklichkeitsfremde Sicht der Dinge völlig die Entwicklungen der letzten 30 Jahre. Seit dem Ende der Sowjetunion, der Putin offenbar nachtrauert, hat die Ukraine sich mehr denn je zu einem eigenen Staat eigener Prägung entwickelt, der insbesondere im westlichen Landesteil stark westlich geprägt ist. In der Bevölkerung Kiews und insbesondere unter den vielen jungen Menschen dort sorgte Putins arrogante und ignorante Rede, die ihr Land zu einem Hinterhof Russlands degradierte, für Empörung und Fassungslosigkeit, wie die ARD-Korrespondentin Birgit Virnich aus Kiew berichtete.
Ist die Ukraine Putin nicht genug?
Es ist diese Westorientierung, in der Putin und mit ihm große Teile des Landes oder zumindest der herrschenden Eliten eine Gefahr für Russland erblicken. Die beständig beschworene Bedrohung durch die NATO ist nur der Vorwand für das aggressive Vorgehen gegen seinen Nachbarn. Tatsächlich sieht Putin die Bedrohung darin, dass die Bindung an solche Dinge wie internationales Recht, wofür der Westen einsteht, die eigenen Großmachtansprüche beschneidet. Und zu diesem Großmachtanspruch gehört die Macht, über kleinere Nachbarn nach Belieben zu bestimmen. In Europa hat man diese Art der Politik nach dem Ersten Weltkrieg aufgegeben. Der Autokrat Wladimir Putin will die Uhr zurückdrehen und den alten Großmacht- oder gar Weltmachtstatus, den sein Land zu Sowjetzeiten einst hatte, wiederherstellen.
In seiner Rede vom 21. Februar 2022 wurde diese Sehnsucht nach der alten Größe Russlands überdeutlich, wie Ina Ruck aus Moskau berichtete. Sie sieht den russischen Präsidenten auf einer historischen Mission, die er, mehr und mehr entrückt von der Realität, meint, erfüllen zu müssen. Für wirtschaftliche Argumente erscheine er mittlerweile weitgehend unempfänglich, die Bedenkenträger, die angedrohten Sanktionen durchaus fürchten und viel zu verlieren haben, dringen kaum noch zu ihm durch. Es bleibt zu hoffen, dass Putin es „nur“ auf die Ukraine abgesehen hat. Das ehemalige Sowjetimperium war bedeutend größer und umfasste halb Europa. Ina Ruck jedenfalls musste gegenüber der Tagesschau zugegeben, beim Hören der Rede zwischendurch einmal schlucken zu müssen, weil ihr der Gedanke kam, dass die Ukraine Putin nicht genug sein könnte.