Droht ein Zwangsouting durch Lauterbach? „Nicht jeder muss wissen, dass ich schwul bin“
Mit Sorge blickt die queere Community auf die jüngsten Pläne des Gesundheitsministers. Eine verpflichtende elektronische Patientenakte könnte für sie stigmatisierend sein.
Grundsätzlich mögen die neusten Pläne von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) erst einmal sinnvoll klingen: die flächendeckende Einführung einer elektronischen Patientenakte (ePA), sodass alle Ärzt:innen zukünftig direkt einsehen können, welche Impfungen, Befunde und Krankheiten Patient:innen haben. Ziel ist es, die ePA bis 2025 in ganz Deutschland für den Großteil der Bürger:innen zu etablieren. Wer das nicht will, muss aktiv widersprechen.
Gerade für besonders vulnerable Gruppen wie die LGBTQIA+-Community gibt es dabei aber viele offene Fragen. Droht so zum Beispiel eine Art von Zwangsouting bei allen behandelnden Ärzt:innen und dem medizinischen Personal? Wie publik werden ein HIV-Status, eine behandelte Geschlechtskrankheit (STI) oder andere queer-spezifische Belange mit der ePA?
Elektronische Patientenakte (ePA) stößt bei Menschen mit HIV auf Skepsis
Markus (28) ist einer jener Skeptiker, der sehr kritisch auf die neuen Richtlinien zur elektronischen Patientenakte (ePA) blickt, wie er gegenüber BuzzFeed News DE erklärt: „Ich bin HIV-positiv, gesund und lebe unter der Nachweisgrenze. Trotzdem erlebe ich bis heute Stigmatisierung und Diskriminierung, sobald klar wird, dass ich schwul und positiv bin. Ich habe wirklich Angst, dass sich das noch weiter verschlimmert, wenn praktisch jeder, der Zugriff zu meiner Patientenakte bekommt, alle meine Daten einsehen kann!“
Markus lebt in Berlin und führt eine Fernbeziehung mit seinem ebenso HIV-positiven Freund Niklas (34), der auf dem Land lebt. Dieser gibt zudem zu bedenken: „Natürlich mag es gewisse Sicherheitsvorkehrungen bei der elektronischen Patientenakte geben, aber ich traue dem nicht so ganz“. Damit bezieht er sich auf Hacker. Außerdem lebe er in einer sehr kleinen Stadt. „Was ist denn, wenn ich zum Orthopäden gehe wegen meiner Rückenschmerzen und die Arzthelferin sieht in meiner elektronischen Akte, dass ich HIV habe? Das kann echt schnell die Runde machen, gerade im Ländlichen!“

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Nutzung der ePA muss „freiwillig“ bleiben, findet die Deutsche Aidshilfe
Holger Wicht von der Deutschen Aidshilfe (DAH) erklärt dazu gegenüber BuzzFeed News DE: „Die ePA bringt für die medizinische Versorgung generell viele Chancen mit sich, aber auch erhebliche Risiken. Die Weiterentwicklung muss sich daran ausrichten, dass sie nicht nur die Behandlung der Patient:innen verbessert, sondern auch ihre Stellung im Gesundheitswesen.“
Dabei müsse laut Wicht auch klar sein, dass die Nutzung der ePA „freiwillig“ sei und alle Nutzer:innen selbst entscheiden könnten, welche Informationen sie mit bestimmten medizinischen Einrichtungen teilen und welche nicht. „Dazu gehört auch, dass das System so transparent wie möglich ist und Menschen eine Vorstellung davon gewinnen können, welche Folgen es für sie haben könnte, wenn sie bestimmte Informationen teilen.“
Ähnliche Forderungen kamen zuletzt auch seitens einiger Bundestagsabgeordneter. Gerade Informationen mit einem „hohen Diskriminierungspotential“ müssten automatisch „verschattet“ werden, sodass die Daten nur für den Patienten selbst sowie für ausgewählte Ärzt:innen sichtbar sind. Die Skepsis scheint jedoch weiterhin groß zu sein, bisher nutzt gerade einmal knapp ein Prozent der 74 Millionen gesetzlich krankenversicherten Menschen in Deutschland überhaupt die ePA, obwohl es diese bereits seit Januar 2021 gibt.
Elektronische Patientenakte bei HIV-Patienten „ist ein heikles Thema“
Der Ausbau des neuen Systems soll dabei Wechselwirkungen bei Medikamenten verringern, eine bessere Notfallversorgung gewährleisten oder auch eine genauere Behandlungsqualität erbringen. Doch genau das bezweifeln offenbar auch einige Ärzt:innen, die sich auf Themen rund um HIV konzentriert haben.
Ein Arzt aus dem süddeutschen Raum, der seinen Namen aus Bedenken vor Konsequenzen nicht nennen will, erklärt gegenüber BuzzFeed News DE: „Da hat sich irgendjemand an seinem Schreibtisch etwas ausgedacht, was wir alles machen sollen, doch nichts funktioniert bisher richtig und es kostet enorm viel Zeit, diese elektronische Patientenakte zu bestücken. Im normalen Betrieb einer Praxis ist das kaum zu schaffen.“
Zudem sei die aktuelle Software noch nicht ausgereift. Grundsätzlich begrüßt der HIV-Facharzt zwar den Grundgedanken, schneller einen besseren Überblick über den Gesundheitszustand von Patient:innen zu erlangen, gibt mit Blick auf Menschen mit HIV aber auch zu bedenken: „Das ist ein heikles Thema. Ich bin mir sicher, es werden Patienten zu mir kommen, die nicht wollen, dass ich die HIV-Diagnose künftig noch in die Patientenakte aufnehme. Damit verliert auch ein Medikamentenplan sofort seine Bedeutung, weil ich dann das HIV-Medikament nicht mit aufnehmen darf. Und schon wissen wir nicht mehr, welche Wechselwirkungen überhaupt auftreten können.“
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„Die Opt-out-Regelung lehnen wir ab, es sollte eine ausdrückliche Zustimmung erforderlich sein!“
Die Deutsche Aidshilfe lehnt daher die geplante Regelung ab, dass Patient:innen aktiv widersprechen müssen, damit die elektronische Patientenakte nicht angelegt wird (Opt-out-Regelung), so Wicht. Bei der Weiterentwicklung der ePA müssten Datensicherheit, Transparenz und ein selbstbestimmter Umgang mit sensiblen Informationen gewährleistet sein. Hinzu komme Freiwilligkeit. „Die Opt-out-Regelung lehnen wir ab, es sollte eine ausdrückliche Zustimmung erforderlich sein!“
Wenn Patient:innen sich für die ePA entscheiden, sollten diese, gerade wenn um sehr sensible Daten geht, immer die finale Entscheidung treffen dürfen: „Es ist aus unserer Sicht zwingend, dass Patient:innen Dokumentengenau selbst freigeben können, welche Informationen in der ePA für welche medizinischen Einrichtungen sichtbar sind – und welche nicht. Das muss nicht nur möglich, sondern auch einfach realisierbar sein.“
„Nicht jeder Arzt muss wissen, dass ich schwul bin, oder?“
Ähnlich sieht das auch Markus: „Es gibt ja viele Fälle, wo wir als Schwule, aber auch queere Menschen allein durch unsere Gesundheitsdaten sofort erkennbar sind, beispielsweise die Affenpocken.“ Natürlich könne sich jeder grundsätzlich gegen das Virus impfen lassen, aber wenn wir ehrlich sind, so seien das bis heute doch „fast ausschließlich schwule und bisexuelle Männer“ gewesen, die ja auch größtenteils von dem Virus betroffen waren. So wie dieser homosexuelle Mann, der über seine medizinische Versorgung bei den Affenpocken klagte.
„Könnte jeder Arzt oder jede medizinische Fachkraft meine ganze Patientenakte künftig einsehen, oute ich mich sozusagen allein durch die Impfung jedes Mal zwangsweise. Vielleicht will ich das aber gar nicht? Nicht jeder Arzt muss wissen, dass ich schwul bin, oder?“
Ähnlich heikel können beispielsweise auch Daten von trans* Menschen sein, die eine Hormontherapie oder die ersten medizinischen Schritte einer Transition begonnen haben. Ebenso für Unbehagen innerhalb der queeren Community sorgte dann auch die Ankündigung, dass alle Daten der ePA künftig auch zu „Forschungszwecken“ verfügbar sein sollen. Ein weites Feld, das Raum für Spekulationen und Angst vor Missbrauch nährt, gerade bei besonders vulnerablen Gruppen. Für Wicht von der DAH ist klar: „Dies sollte nur mit Einwilligung möglich sein.“ So gibt es am Ende nach wie vor gerade unter LGBTQIA+-Menschen noch einige offene Fragen, die beantwortet werden müssen, bevor die ePA vielleicht auch hier vertrauensvoll angewendet werden kann.
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Autor: Michael Schmucker