6 Arten auf ein schlimmes Ereignis zu reagieren – und alle sind vollkommen okay

Menschen haben infolge von traumatischen Ereignissen unterschiedliche Gefühle. Expert:innen zufolge, gibt es mehr als nur eine Möglichkeit, Traumata zu verarbeiten. Und sie sind alle normal.
Eine nicht enden wollende Reihe von Tragödien scheint zur neuen Normalität in Amerika geworden zu sein. Bei einer Massenschießerei an einer Grundschule in Uvalde, Texas, wurden 19 Schulkinder und zwei Erwachsene getötet. Dies geschah nur wenige Tage, nachdem ein Schütze in Buffalo, New York, zehn Menschen, viele davon PoCs, getötet hatte. Etwa zur gleichen Zeit wehrten sich Kirchenbesucher:innen in Kalifornien gegen einen Bewaffneten, der einen Menschen tötete und weitere fünf verletzte. Auch in Tulsa, Oklahoma, tötete ein Schütze vier Menschen und dann sich selbst.
Wir könnten die Aufzählung fortsetzen. Heutzutage scheint es geradezu ungewöhnlich zu sein, die Nachrichten einzuschalten und nicht von einer weiteren Massenschießerei oder einem anderen grundlosen Gewaltakt zu hören. Laut dem Gun Violence Archive (eine Forschungsgruppe, die Vorfälle von Waffengewalt sammelt, Anm. d. Red.) gab es allein im Jahr 2022 mehr als 200 Massenschießereien. Die American Public Health Association bezeichnet Waffengewalt in den USA als eine Krise der öffentlichen Gesundheit. Sie ist eine der Hauptursachen für vorzeitige Todesfälle in den USA und gemäß dem Pew Research Center für mehr als 38.000 Todesfälle pro Jahr verantwortlich. Bis zum 26. Mai 2022 sind nach Angaben des Gun Violence Archive in diesem Jahr mindestens 17.332 Menschen in den USA durch Waffengewalt gestorben.
Und doch wird von uns allen erwartet, dass wir weiterarbeiten. Unsere Kinder weiter zur Schule bringen. Wir sollen uns weiterhin auf ein paar Drinks treffen, als ob nicht noch mehr unschuldige Menschen getötet worden wären. Einfach weitermachen wie bisher, richtig?
Beim Umgang mit tragischen Nachrichten haben alle Emotionen ihre Berechtigung
Aber die Gefühle, die du empfindest, sind normal. Die Taubheit, die deinen gesamten Geist und Körper umgibt, ist ebenfalls normal. Ein breites Spektrum von Gefühlen – Traurigkeit, Frustration, Wut, Angst, Furcht - kann dich in Momenten der Trauer nach Massenschießereien, Naturkatastrophen und anderen Tragödien überwältigen.
Damit das klar ist, wir sprechen hier von Menschen, die diese Ereignisse hauptsächlich in den Nachrichten miterleben und nicht aus erster Hand in ihrer Heimatstadt, in der Schule oder sogar in ihrer Familie – obwohl es in den USA nur wenige gibt, die von willkürlichen Gewalttaten völlig unberührt sind. Es ist wichtig, diese Gefühle zu erkennen, zu verstehen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen.
„Die Wahrheit ist: Wenn wir das nicht tun, bleiben diese Gefühle trotzdem. Es kommt nur darauf an, wie sie zum Vorschein kommen – und das werden sie“, so Stephanie Marcello, leitende Psychologin an der Rutgers University Behavioral Health Care, die sich auf die Behandlung von Menschen mit Traumata spezialisiert hat. „Es macht Sinn, dass man diese verschiedenen Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen hat. Lasst uns darüber reden“, so Marcello. „Wir sollten uns bewusst machen, wie wir darauf reagieren, und dann können wir entscheiden, ob diese Reaktion für uns gesund ist oder nicht.“
Bewältigung von tragischen Ereignissen oder Traumata: Es gibt kein richtig oder falsch
Menschen erleben ein Trauma und drücken ihren Stress auf viele verschiedene Arten aus, aber einige gemeinsame Reaktionen und Emotionen tauchen jedes Mal auf, wenn sich eine weitere Tragödie ereignet: Desensibilisierung (oder Gefühllosigkeit), Wut, Traurigkeit, Angst, Scham und Schuld.
Desensibilisierung
Manche Menschen reagieren angesichts einer Tragödie scheinbar unempfindlich. Ihre Reaktion oder das Ausbleiben solcher Reaktionen könnten als unsensibel erscheinen. Aber diese Reaktion schützt die Menschen oft davor, sich selbst zu überfordern oder zusammenzubrechen. Es ist auch eine der häufigsten Reaktionen von Menschen, die ein Trauma erlebt haben, so Marcello, insbesondere ein anhaltendes Trauma, wie etwa eine Massenschießerei nach der anderen.
Ein schlimmes Ereignis nach dem anderen zu erleben, kann dazu führen, dass manche Menschen nicht mehr in der Lage sind, ihre Emotionen zu verarbeiten, oder dies nicht mehr wollen, was dazu führt, dass sie in eine Art Schockzustand geraten. „Das ist in vielerlei Hinsicht gefährlich, weil diese Gefühle immer noch da sind“, warnt Marcello. „Durch diese Art der Verdrängung lassen sie sich nicht wahrnehmen.“
Zumindest anfangs ist es zwar in Ordnung und normal, diesen Bewältigungsmechanismus zu nutzen, dennoch sei es laut Marcello wichtig, darauf zu achten, dass das eigene Verhalten nicht der eigenen psychischen Gesundheit oder der anderer Menschen in der Umgebung schadet. „Wie wir reagieren, wenn so etwas passiert, ist zwar für andere sehr offensichtlich, aber für uns selbst vielleicht nicht“, sagte Marcello.
Wut
Es ist unglaublich einfach, wütend zu sein und diese intensiven Emotionen auf andere abzuladen, wenn sich schlimme Vorfälle ereignen. „Wut gehört zu den Gefühlen, die die Menschen in gewisser Weise gerne haben. Es gibt uns ein falsches Gefühl von Kontrolle und Überlegenheit, als ob wir ein Recht auf unsere Wut hätten“, erklärt Marcello. „Es ist ein schwieriges Gefühl, da manche Menschen nur ungern darauf verzichten.“
Wut ist ein normales und gesundes, menschliches Gefühl – aber es kann außer Kontrolle geraten. Deshalb ist es wichtig, in Momenten der Unsicherheit, des Chaos und der Trauer mit sich selbst und anderen zu sprechen, „um herauszufinden, was sonst noch vor sich geht, denn zu dieser Geschichte gehört definitiv mehr“, sagt sie.
Diese wichtige Arbeit kann man tun, indem man eine:n Therapeut:in aufsucht und sich um sich selbst kümmert, sei es auf mentaler, körperlicher oder emotionaler Ebene. „Es ist, als würde man eine Dose Limonade öffnen. Wenn man die Dinge immer weiter aufstaut, wird sie irgendwann platzen und explodieren“, meint Marcello. „Es muss auf irgendeine Weise herauskommen.“
Traurigkeit, Angst, Scham und Schuldgefühle
Jedes Mal, wenn man eine Tragödie sicher überstanden hat (das heißt, wenn man überlebt hat), kann es sehr belastend sein, sich mit der Frage „Warum nicht ich?“ auseinanderzusetzen. Dies ist eine häufige Reaktion, die als Schuldgefühl der Überlebenden bezeichnet wird und durch starke, anhaltende Gefühle der persönlichen Verantwortung, Traurigkeit und Schuld gekennzeichnet sei.
Die Tatsache, dass Kinder immer häufiger Opfer von Gewalt werden, füge eine ganz andere Ebene der Frustration und Angst hinzu, so Marcello. Manche Eltern haben sogar ein schlechtes Gewissen, ihre Kinder in der Schule zu lassen. In den USA sei dort schließlich die Sicherheit nicht mehr garantiert.
Natürlich werden Kinder und Jugendliche davon beeinflusst, wie ihre Bezugspersonen auf traumatische Ereignisse reagieren, und sie „wenden sich in der Regel an sie, um Informationen und Trost zu erhalten“, so Marcello. Deshalb ist es besonders wichtig, dass Erwachsene bei Ereignissen, die Kinder betreffen, auf die Gefühle der Kinder achten und den Jüngeren vermitteln, dass es in Ordnung ist, viele Gefühle gleichzeitig zu empfinden. „Eines der besten Dinge, die wir, vor allem als Erwachsene, tun können, ist, sich hinzusetzen und diese Gefühle kommen und gehen zu lassen“, sagte sie. „Je mehr wir versuchen, sie zu bekämpfen, desto verstärkt werden sie weiterhin vorhanden sein.“
Gefühle zu unterdrücken, kann diese nur noch verstärken und sich in ungesunden Verhaltensweisen äußern
Einigen Menschen fällt es leicht, über ihre Gefühle zu sprechen und ihren Mitmenschen zu sagen, wenn sie traurig, frustriert oder wütend sind. Bei anderen Menschen können sich Emotionen auch in körperlichen Symptomen äußern, zum Beispiel tief in der Brust oder im Magen, sagte Marcello.
„In mancher Hinsicht ist es einfacher zu sagen: ‚Mein Bauch tut weh‘ als ‚Ich habe solche Angst und bin so aufgeregt‘“, so Marcello. „Das ist für die Menschen schwieriger zu sagen, die nicht wirklich gelernt haben, wie man das macht.“ In anderen Fällen können sich Emotionen in ungesunden Verhaltensweisen äußern, wie Schlafmangel, Appetitlosigkeit, Kaufrausch, der zu Schulden führt, und Drogenmissbrauch.
„Wenn wir mit unseren Emotionen nicht auf gesündere und sicherere Weise umgehen, können sie sich auf andere Weise äußern, etwa durch den Konsum von Drogen oder Alkohol oder durch die Entwicklung einer Sexsucht“, erklärt Marcello, „oder durch alles, was uns im Moment ein gutes Gefühl gibt, aber längerfristige Folgen hat.“
Wie man mit seinen Gefühlen nach einer Tragödie umgehen kann
In erster Linie muss man geduldig mit sich selbst sein, so Marcello. „Man fühlt sich vielleicht ein wenig abgelenkt oder müde, also muss man sich den Raum geben, um sich ein wenig auszuruhen“, sagt sie. Hilfreich kann auch sein, seinen Medienkonsum einzuschränken, wenn man merkt, dass man nicht abschalten kann und die negativen Gefühle dadurch nur noch verstärkt werden, auf einigen Apps lässt sich die Bildschirmnutzung beispielsweise einschränken. Und denke daran, weiterhin die Dinge zu tun, die dir Freude bereiten, wie spazieren gehen, sich mit Freund:innen zu treffen oder den Lieblingssport zu betreiben. Auch Meditation kann sich positiv auf deine Psyche auswirken.
Du solltest auch so viel wie möglich an deiner normalen Routine festhalten, rät Marcello. „Dusche. Machen dein Bett. Beginne deinen Tag damit, dich selbst zu ehren“, sagt sie. „Es geht immer darum, Erholung in unser Leben einzubauen, und zwar in verschiedenen Bereichen, die uns wichtig sind, sodass wir, wenn diese Dinge passieren – denn sie werden passieren – diese Dinge haben, um uns zu unterstützen“, so Marcello. „Nicht jeder hat diesen Luxus, aber es gibt einfache Dinge, die man jeden Tag tun kann, damit sich eine Regelmäßigkeit einstellt.“
Gleichzeitig solltest du es vermeiden, angesichts einer Tragödie größere persönliche Veränderungen vorzunehmen. Stattdessen kannst du versuchen, dich in deiner Gemeinde zu engagieren, um den gewünschten Wandel voranzutreiben. „Ehrlich gesagt ist das Wichtigste, was wir tun, dass wir darüber reden“, so Marcello.
Solltest es dir oder jemandem den du kennst, psychisch nicht gut gehen, gibt es in Deutschland viele verschiedene Telefonseelsorgestellen, die zu jeder Tages- und Nachtzeit anonym Beratung am Telefon anbieten. Die bundeseinheitlichen Telefonnummern 0800-1110111 oder 0800-1110222 sind kostenlos.
Autorin ist Katie Camero. Dieser Artikel erschien am 26. Mai 2022 zunächst auf buzzfeednews.com. Aus dem Englischen übersetzt von Aranza Maier.