Aktivist will „Gettoisierung bei Menschen mit Behinderung“ an Schulen abschaffen

„Kinder mit Behinderung haben an Regelschulen größere Bildungschancen“, sagt Raúl Krauthausen. Er warnt vor einer Schonraumfalle und macht einen Vorschlag.
Wegen des Lehrermangels, der deutsche Schulen momentan fest im Griff hat, versuchen manche Ministerpräsidenten wie Markus Söder sogar Personal nach Bayern abzuwerben – was der Lehrerverband als „unkollegial“ kritisiert. Weitere Möglichkeiten, die diskutiert wurden, sind selbstständiges Lernen der Schüler:innen oder Prämien für Lehrkräfte. Auch Teilzeit abzuschaffen, wurde schon als Option vorgeschlagen.
Davon raten Verbände und Bildungsgewerkschaften jedoch ab. Sie befürchten, dass Nachteile besonders für Frauen entstehen und das Gegenteil von dem erreicht wird, was gewollt ist: mehr Menschen für den Lehrerberuf zu gewinnen. Mehr als 12.000 Stellen sind nach Angaben aus den Ländern in den allgemeinbildenden und beruflichen Schulen bereits jetzt unbesetzt.
Die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK), sagt voraus, dass das Personalproblem „aller Voraussicht nach in den kommenden 20 Jahren bestehen bleiben“ werde und mahnt: Allen Akteur:innen im Schulsystem müsse klar sein, dass die Gesellschaft vor einer historischen Herausforderung stehe, die größte Anstrengungen erfordere. Bei denen dürfen Menschen mit Behinderung jedoch nicht vergessen werden, warnt der Inklusions-Aktivist Raúl Aguayo-Krauthausen gegenüber BuzzFeed News DE.
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„Kinder mit Behinderung haben an Regelschulen größere Bildungschancen“
In seinem neuen Buch „Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden“, spricht Krauthausen das Thema Bildung in einem eigenen Kapitel an. Es trägt den Namen „Schule all-inclusive?“ und legt den Finger in die Wunde derer, die dachten, dass Förderschulen für Menschen mit Behinderung das Nonplusultra sind. Sind sie nicht, findet Krauthausen. Zumindest nicht für alle.
„Kinder mit Behinderung haben an Regelschulen größere Bildungschancen“, sagt Krauthausen im Gespräch mit BuzzFeed News DE. Oft werde dagegen argumentiert, sie würden dort gemobbt werden. „Aber das ist, als würde man jemandem sagen: ‚Trag keinen Minirock, dann wirst du nicht sexuell belästigt.‘ Es kann keine Lösung sein, Kinder mit Behinderung in Förderschulen von Nicht-Behinderten abzutrennen.“
Auch eine Analyse der Bertelsmann Stiftung kommt zum Schluss, dass Kinder mit den Förderschwerpunkte „Lernen“, „Emotionale und soziale Entwicklung“ sowie „Sprache“ im inklusiven Unterricht im Vergleich zum Unterricht in Förderschulen größere Lernfortschritte erzielen. Und dennoch schreitet Deutschland beim Abbau dieses ‚exklusiven‘ Unterrichtens in Förderschulen nur langsam voran, so die Expert:innen.
Buch: „Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden“
Am Dienstag, 14. März 2023, erscheint das neue Buch von Aktivist Raúl Aguayo-Krauthausen im Buchhandel. Darin thematisiert der 42-Jährige all das, was er in zwei Jahrzehnten des Aktivismus für Inklusion und Teilhabe behinderter Menschen in allen Lebensbereichen gelernt hat. Auch Lösungsansätze stellt er in seinem Buch vor. „Inklusion ist ein Menschenrecht, das noch immer viel zu oft vergessen, ausgespart und nicht mitgedacht wird. Das muss sich ändern!“, lautet seine Devise.
Raúl Aguayo-Krauthausen sieht in deutschen Schulen eine „Pseudoinklusion“
Der Erziehungswissenschaftler Klaus Klemm kommt in seiner bildungsstatistischen Momentaufnahme 2020/21 zum Schluss, dass es in den meisten Bundesländern eine Art „Inklusion in der Exklusion“ gebe. Realschulen und Gymnasien würden sich in einem „eher geringen Ausmaß an der Inklusion“ beteiligen. Raúl Aguayo-Krauthausen spricht in seinem neuen Buch gar von einer „Pseudoinklusion“. Was das bedeuten soll, fragen wir ihn.
An Gesamtschulen gebe es immer mehr Kinder mit Behinderung, weil immer mehr Kinder als Inklusionskind eingestuft würden, so Krauthausen. Das liege daran, dass die Diagnostik feiner werde. „Sie haben dann plötzlich beispielsweise das Merkmal ADHS, und die Schule bezieht für sie Fördermittel“, erklärt er gegenüber BuzzFeed News DE. Weil der Anteil an Kindern auf Förderschulen aber stagniere, sei das kein wirklicher Erfolg, so der Aktivist. „Für mich fühlt sich das nach einer Pseudoinklusion an.“
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„Wir können den Lehrermangel nicht auf dem Rücken von Minderheiten lösen“
Aber was wäre denn die Lösung, fragen wir Krauthausen. In Zeiten, in denen Lehrkräfte mit Art ihrer Kündigung auf TikTok für Aufsehen sorgen und in deutschen Schulen an jeder Ecke Personal fehlt, wie könnte man da noch Kinder mit Behinderung in Regelschulen inkludieren? „Inklusion an Schulen ist kein Hexenwerk“, sagt Krauthausen. Er findet Diskussion über Kapazitäten und Personalnot wichtig. Aber er sagt ganz deutlich: „Wir können den Lehrermangel nicht auf dem Rücken von Minderheiten lösen.“
„Wenn wir alle Kinder mit Behinderung auf alle Schulen verteilen würden, dann wäre es ein Kind pro Klasse, zeigt eine Bertelsmann-Studie. Das würde das System nicht zum Erliegen bringen. Natürlich bräuchte es in diesen Schulen dann Investitionen in barrierefreie Gebäude, Pädagogik und Personal – aber die macht man im besten Fall einmal und dann für immer“, so der Autor und Speaker. Er bezieht sich damit auf eine Analyse von Jutta Schöler, die diese Verteilung 2011 benannte, bestätigt die Bertelsmann Stiftung gegenüber BuzzFeed News DE.

Ihm ist es wichtig, die UN-Behindertenrechtskonvention anzusprechen. Sie soll sicherzustellen, „dass behinderte Menschen nicht aufgrund einer Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden.“ Laut Krauthausen fordert sie auf Deutschland übertragen, alle Sonderschulen abzuschaffen. „Dazu gehört übrigens auch das Gymnasium, eine Art Sonderschule für Talentierte, wenn man so will.“
Von der UN-Konvention spricht auch die Bertelsmann Stiftung. Sie kommt zu dem pessimistischen Schluss, dass die Exklusionsquote (also der Anteil von Schüler:innen mit Förderbedarf auf Sonderschulen) bis 2035 weiter ansteigt. „Insgesamt geht die Kultusministerkonferenz davon aus, dass es bei der Annäherung an die UN-Behindertenrechtskonvention
keinen weiteren Fortschritt geben wird.“
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Raúl Aguayo-Krauthausen über die so genannte „Schonraumfalle“
In seinem Buch nutzt Krauthausen den Begriff „Schonraumfalle“, um zu beschreiben, was in Deutschland beim Thema Inklusion passiert. Nicht so nett ausgedrückt sei es eine „Gettoisierung bei Menschen mit Behinderung“. Nicht nur im Bildungssystem. „Menschen mit Behinderung werden in Deutschland systematisch aussortiert“, so der Aktivist.
Das geht von den Behindertenwohnheimen außerhalb der Stadt bis zu Behindertenwerkstätten. „Alles wird damit begründet, dass sie es dort ‚besser haben‘. Doch am Ende hält man sie dort klein“, so Krauthausen. Und genau das sei die Schonraumfalle: „Je länger Menschen mit Behinderung in solchen Werkstätten und Förderschulen sind, desto größer wird der Abstand zur Mehrheitsgesellschaft“.
Menschen mit Behinderung werden in Deutschland systematisch aussortiert.
Nur ein Prozent der Werkstättenangestellten schaffe es in den Arbeitsmarkt, kritisiert Krauthausen. Das bestätigt auch das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Dabei ist es das politische Ziel der Werkstätten, diese Menschen zu integrieren. Aber die, so Krauthausen, hätten ja keinen Anreiz, ihre beste Arbeitskraft an den normalen Arbeitsmarkt zu verlieren, weil sie auch Gewinne machen wollen.
Politik muss Menschen mit Behinderung mehr Entscheidungsmöglichkeiten geben
„Ich bin Realist und weiß, dass manche Menschen mit Behinderung diesen Schonraum schätzen. Aber die meisten haben keine faire Wahl. Sie entscheiden sich aus Angst für den Schonraum, weil es zu wenig Alternativen und Aufklärung darüber gibt.“ Deshalb müsse Politik Menschen mit Behinderung mehr Entscheidungsmöglichkeiten geben.
„Momentan landen über 90 Prozent der Gelder in den Taschen der Menschen ohne Behinderung. Das System aus Werkstätten und Behindertenheimen müsste besser vom Gesetzgeber kontrolliert werden und es braucht eine unabhängige Beratung der Bewohner:innen außerhalb des Systems.“
Das wäre die beste Lobby für Menschen mit Behinderung – wenn sie sich einfach selbst vertreten könnten.
Auch eine Quote für Menschen mit Behinderung wäre eine Idee, so Krauthausen. „Bei den Sozialverbänden und der Wohlfahrtsindustrie reicht wahrscheinlich noch nicht mal eine Quote. Warum können Menschen mit Behinderung nicht einfach das Wohnheim führen und dort mit der Mehrheit in Vorständen sitzen?“, fragt er. In Großbritannien sei das in sogenannten Disabled People Organisations (DPOs) Standard. Dort haben 75 Prozent der leitenden Menschen eine Behinderung. „Das wäre die beste Lobby für Menschen mit Behinderung – wenn sie sich einfach selbst vertreten könnten.“
(Mit Material der dpa)