Laut Frank Eckardt liegt gemeinschaftliches Wohnen im Trend. Er ist seit 2009 Professor für Sozialwissenschaftliche Stadtforschung an der Universität Weimar und beschäftigt sich mit Wohnsoziologie und Wohntrends. „Seit etwa zehn Jahren erleben wir einen regelrechten Boom bei kleineren Wohngenossenschaften. Gemeinschaftliches Wohnen liegt absolut im Trend. Derzeit leben etwa sechs Millionen Menschen gemeinschaftlich – Tendenz steigend“, sagt Eckardt BuzzFeed News DE.
Treiber dieses Trends seien jedoch nicht nur die jungen Familien, die sich die Erziehung aufteilen, sondern vor allem auch die Generation 50+. „Alte Menschen werden aktiver. Für die, die in Rente gehen, fängt eine Art dritte Lebensphase an. Deswegen sind es die 50-Jährigen, die am häufigsten gemeinschaftliche Wohnprojekte realisieren – darunter übrigens viele Frauen“, so der Wohnsoziologe.
Für junge Menschen sei die Doppelbelastung von Karriere und Familie der Hauptgrund, sich nach einem Mehrgenerationenhaus umzusehen. Das könnten aber auch Familien-WGs sein oder andere Formen des gemeinschaftlichen Wohnens. „Egal wie viel Betreuungsangebote es für Eltern gibt – da bleibt eine potenzielle Grundüberforderung, zwei schwierige Dinge gleichzeitig erledigen zu müssen“, so Eckardt. Das zeigt auch das Beispiel Anton Hofreiter, der seinen kleinen Sohn mit zu Bundestagssitzung nahm.
Jan und Julia zeigen mir einen Gemeinschaftsraum und eine Dachterrasse, die sich das ganze Haus teilt. Auch eine Reinigungskraft teilen sich zehn der 50 Wohneinheiten im „BeTrift“ und beschäftigen sie auf Midijob-Basis. Es gibt einen Kinderchor, einen Kochkurs und – das erzählt mir Julia – bald vielleicht auch einen Lieferdienst für unverpackte Lebensmittel. Für sie war das Teilen ein wichtiger Grund, warum sie ein Mehrgenerationenhaus spannend fand. Vor allem auch das Teilen der Care-Arbeit, die in Deutschland immer noch Frauensache ist. „Wenn man arbeitet und Familie hat, dann schafft man das eigentlich gar nicht alles alleine“, sagt die 39-Jährige BuzzFeed News DE.
Steffen Bennewitz zeigt mir stolz den Ausblick auf die Frankfurter Skyline, den man von seiner Dachgeschosswohnung aus hat. Er lebt mit seiner Partnerin, zwei Kindern und zwei anderen Erwachsenen in einer Familien-WG. Hier ist das Teilen von familiären Pflichten längst Normalität. Für ihn spielte auch der finanzielle Aspekt eine große Rolle – kein Wunder, denn momentan explodieren die Preise überall (Ist das nur die Inflation?). „In Frankfurt ist es auf dem freien Mietmarkt fast unmöglich, an Wohnungen zu kommen“, erzählt er. Aber auch mit der Wohngenossenschaft im Rücken habe es für ihn erst beim dritten Anlauf funktioniert – man „braucht wirklich einen langen Atem bei Wohngruppenprojekten.“
Iris Juranic und Gabriele Engelmann müssen genau diesen langen Atem momentan beweisen. Sie suchen noch nach einer geeigneten Immobilie, für ihr Projekt „Wir.Raum.OF“ in der Offenbacher Innenstadt. Eigentlich hatten sie schon einen Bunker im Auge – mit dem wurde es jedoch nichts, weil die Stadt aufgrund des Ukraine-Krieges alle zivilen Schutzanlagen prüfen musste. Das sei schon ein harter Schlag gewesen, erzählen sie mir. Vor allem Iris, deren Kinder mittlerweile schon etwas älter sind, hatte sich auf die Unterstützung gefreut, die gemeinschaftliches Wohnen mit sich bringt. „Berufsleben und Kinder – das ist schon eine anstrengende Sache“, sagt die 46-Jährige über die „Arbeitswelt der Zukunft“, die laut vielen arbeitenden Eltern düster aussieht.
Aber wie findet es die 69-jährige Gabriele, wenn junge Familien sich von ihr Hilfe im Alltag erhoffen? „Ach, ich könnte da einiges anbieten: Bei den Hausaufgaben helfen oder den Babysitter machen zum Beispiel“, sagt sie. „Es wäre halt schön, wenn dann im Gegenzug jemand im Alter für einen einkauft.“ Auch jetzt wohne sie in einem Haus mit vielen netten Menschen, aber man treffe sich immer nur kurz. „Ich würde mir wünschen, dass es darüber hinausgeht“, erklärt sie ihre Vision.
Um diese Vision zu realisieren und neben den bisherigen elf Erwachsenen noch weitere Bewohner:innen und eine Immobilie zu finden, schaltete „Wir.Raum.OF“ auf der Plattform „Bring Together“ eine Anzeige. Die Matching-Plattform verknüpft mithilfe eines Algorithmus Gemeinschaftsprojekte, Immobilien und Suchende miteinander. Bisher haben Iris und Gabriele leider noch keine Angebote für Bauprojekte bekommen. Trotzdem suchen sie weiter, denn sie sind der Meinung, dass unsere Gesellschaft „diese Vereinzelung“ einfach nicht weiterbringe.
Es war die Idee von Karin Demming, Mary-Anne Kockel und Christoph Wieseke, genau dieser Vereinzelung im Jahr 2015 den Kampf anzusagen. Sie wollten den Menschen, die gemeinschaftlich leben möchten, genau die Hindernisse aus dem Weg räumen, mit denen auch „Wir.Raum.OF“ momentan zu kämpfen hat. Deshalb gründeten „Bring Together“ und launchten 2018 die erste Version der Website. Heute zähle sie 38.000 Nutzer:innen, erzählt mir Karin. Vor allem während Corona habe es einen regelrechten Schub gegeben. Monatlich würden etwa 1400 neue Nutzer:innen hinzukommen.
Hauptzielgruppe der Plattform für gemeinschaftliches Wohnen „Bring Together“ seien vor allem 25-34-Jährige. Viele davon hätten das Bedürfnis, nachhaltiger zu leben, Dinge zu teilen und so ihren ökologischen Fußabdruck zu reduzieren. Dieses Bedürfnis haben auch die User:innen der Veggly-App, die Veganer- und Vegetarier:innen zusammenbringt. Karin hat noch eine weitere Idee, warum junge Familien in Gemeinschaften wohnen wollen: „Diese klassischen Familienstrukturen, bei denen die Eltern in der Nähe sind und unterstützen, gibt es immer weniger. Deswegen sehe ich einen Trend dahin, dass sich junge Familien zusammentun, um einander zu unterstützen.“
Nachdem ich mich im „BeTrift“ umgesehen habe, setze ich mich mit Sabine, Steffen, Jan, Julia und der 65-jährigen Gisela Schill auf die Sofas im Innenhof. Es ist warm und sonnig. Die neun Monate alten Kinder von Jan und Sabine tollen vergnügt auf dem Boden herum, während wir uns unterhalten.
„Zufriedene Kinder haben wir hier“, sagt Gisela und sieht dabei selbst ganz zufrieden aus. Sie hat früher als Kinderkrankenschwester gearbeitet und schätzt das gemeinschaftliche Wohnen sehr. „Wenn ich Kontakt haben will, dann gehe ich raus in den Hof. Ich brauche mich nur auf eine Bank zu setzen, dann kommt die vierjährige Franka zu mir und wir reden über dies und das – das ist so süß!“, sagt sie mir.
Also profitieren nicht nur die jungen Familien? Nein, finden alle fünf Bewohner:innen. Jan erzählt, dass sie eine ältere Nachbarin hatten, die an Krebs erkrankte. „Einige Bewohner:innen haben dann versucht, ihr das Leben im Haus so lange wie es nur geht zu ermöglichen, und haben sich die Pflegearbeit aufgeteilt.“ Ich frage nach, warum sie sich nicht für ein klassisches Mehrgenerationenhaus mit den eigenen Eltern entschieden haben. Sabine antwortet, dass ihr Lebensmittelpunkt mittlerweile Frankfurt sei. Für sie habe es sich nicht ergeben, noch in der Nähe ihrer Eltern zu wohnen, sagt die 39-Jährige.
Anders ist das bei Bloggerin Jana Berger. Die 32-Jährige lebt seit sechs Jahren in einem traditionellen Mehrgenerationenhaus mit ihrer Mutter, Ehemann und zwei Kindern im Alter von sechs und zwei Jahren. Weil der Kauf von Immobilien für junge Menschen trotz leicht sinkender Preise schwer bleibt, war das Zusammenziehen für sie damals sowohl finanziell als auch beruflich die einzige Option. „Für mich stand es nicht zur Debatte, dass ich nach der Elternzeit mindestens 30 Stunden in der Woche arbeiten muss – Überstunden und Anfahrt exklusive“, erzählt sie mir im Gespräch.
Als Janas erste Tochter geboren wurde, entschied sich das Paar, mit Janas Mutter, die damals in Rente ging, zusammenzuziehen. Drei Jahre lang wohnte die Familie wie in einer Art großen WG in einem Reihen-Mittelhaus in einem Vorort von München. Trotz vieler Herausforderungen sei das super gewesen, so Jana. Besonders, weil einfach noch eine weitere Person nach dem Kind schauen konnte. „Das ist so high Level, 24/7 nach deinen Kindern zu schauen. Ich glaube auch nicht, dass das der Naturzustand ist, dass das nur ein oder zwei Elternteile machen. Ich glaube schon, dass es ein ganzes Dorf braucht – so wie es eben dieses afrikanische Sprichwort sagt.“
Janas Geschichte zeigt, dass es super individuell ist, wer es sich wann vorstellen kann, Kinder zu bekommen. Hier weitere 11 Gründe, warum der „perfekte Zeitpunkt“ fürs Kinderkriegen Quatsch ist.
Jana und ihre Familie leben heute in einem Haus mit getrennten Wohneinheiten in Niederbayern. Schon hier spüre sie, dass es ein wenig mehr Belastung wäre, erzählt sie mir. Trotzdem sei es so ideal, denn man habe eine gute Mischung aus Privatsphäre und gemeinsamer Zeit. „Alle denken immer, es wäre super harmonisch bei uns. Das ist es nicht. Es gibt auch viele Konflikte.“ Aber als Erwachsene wieder mit ihrer Mutter zu leben, gebe ihr auch die Möglichkeit, viele Konflikte von früher aufzulösen, so Jana. „Wenn ich sehe, wie mein Kleiner morgens zu Oma geht und ein Marmeladenbrot stibitzt oder wir alle zusammen im Garten sitzen, dann denke ich mir jedes Mal: ‚Das ist es sowas von Wert.‘“
Weil sie es immer wieder schwer fand, Familie und Job unter einen Hut zu bringen, hat Jana 2021 übrigens die Plattform Familienfreundliche Arbeitgeber gegründet. Hier werden Arbeitgeber auf ihre Familienfreundlichkeit hin bewertet, also zum Beispiel auch im Hinblick darauf, ob sie eine Berufliche Auszeit zulassen, die ein neues Feature bei LinkedIn enttabuisieren soll.
Traditionelle Mehrgenerationenhäuser wie bei Jana seien die Ausnahme, so Eckardt von der Universität Weimar. „Das könnte daran liegen, dass viele dann doch die Beziehungsdynamiken fürchten, die da auf sie zukommen.“ Ein Mehrgenerationenhaus mit der biologischen Familie werde bei vielen von der Frage nach Altenpflege überschattet. Die Unterstützung bei der Kindererziehung nehmen junge Familien dankend an, aber die Vorstellung, Mutter oder Vater zu pflegen, schrecke viele ab, so der Experte. „Eine fremde Familie ist da natürlich verlockend und lässt ein Stück mehr Freiheit zu.“
Er sehe den Grund für gemeinschaftliches Wohnen nicht nur in der Belastung, sondern allgemein im Wunsch nach Familienstrukturen. „Wir Menschen denken in familiären Strukturen. Das sieht man auch in ganz anderen Bereichen, wie zum Beispiel der LGBTQIA+-Bewegung. Auch hier tun sich Menschen zusammen, um familiäre Verhältnisse jenseits von starren Verwandtschaftsgraden aufzubauen“, so Eckardt.
Sabine, Steffen, Jan, Julia und Gisela scheinen zu diesen Menschen gehören, die sich familiäre Verhältnisse jenseits von starren Verwandtschaftsgraden aufbauen. Sie schaffen sich mit ihrem Mehrgenerationenhaus Überschaubarkeit inmitten des Stadt-Trubels und Familie inmitten des anonymen Großstadt-Flairs.
„Vor allem die kurzen Wege sind im Alltag eine große Hilfe – da setzt man sich abends viel eher noch auf ein Bier zusammen, als wenn man durch die ganze Stadt muss“, erzählt mir Sabine. Sie lacht, als ich sie frage, ob es nicht seltsam ist, dass sich Großstädter zusammentun, um eine Art ländliche Wohnsituation nachzubilden. „Ein bisschen paradox ist es schon, dass wir Stadtmenschen uns ein eigenes kleines Dorf schaffen.“
Paradox findet es Eckardt nicht. Seiner Meinung nach kam schon in den vergangenen zehn bis 20 Jahren immer mehr Verständnis für das Bedürfnis auf, den eigenen Lebensraum überschaubar zu gestalten. Und das passiert, indem Ersatzfamilien gegründet sowie Wege reduziert werden und die Belastung der Erziehung auf mehrere Schultern aufgeteilt wird.
Die Idee des Mehrgenerationenhauses habe jedoch auch Nachteile, so Eckart. In Berlin sehe man beispielsweise ab und an, dass gemeinschaftliche Bauprojekte die Preise in die Höhe treiben – gerade in Szenevierteln wie Kreuzberg. Hier sei man dann wieder beim Stichwort „Gentrifizierung“, die so noch bestärkt werde.
Gerade hier müssten die Menschen, die gemeinschaftlich wohnen, aufpassen, sich vom Rest der Stadt nicht abzukapseln, sagt der Wohnsoziologe. Sie sollten ihre eigenen Vorstellungen von einem guten Leben nicht auf andere übertragen und offen für den Rest der Stadt bleiben. Denn das sei ja auch das Gute an Großstädten: „Dass man Kontakt mit Leuten hat, die nicht genauso sind, wie man selbst“, so Eckardt.
Über Frustrationstoleranz bei anderen Meinungen und Lebensentwürfen sprechen wir übrigens auch im Interview mit Philosoph Andreas Urs Sommer über direkte Demokratie.