Liebe „besorgte“ Eltern, queere Themen in der Schule machen eure Kinder weder lesbisch noch schwul!

MEINUNG von Michael Schmucker
Auch heute noch fürchten Eltern, ihre Kinder könnten durch queere Themen in der Schule am Ende schwul oder lesbisch werden. Wie kann das bloß sein?
Liebe besorgte Eltern, ich habe eine Frage an euch – sie ist im Grunde einfach, doch sie drängt sich in diesen Tagen abermals auf. Seid ihr ehrlich der Auffassung, ein Schulunterricht, in dem LGBTQIA+ Thema sein kann, macht eure Kinder queer? Bitte, lasst uns reden, denn ich verstehe es nicht.
Bereits 2015 machte die AfD in Deutschland mobil gegen die „Frühsexualisierung“ unserer Generation Z und es entstand das angsterfüllte Bild, unsere minderjährigen Kinder würden künftig bereits in der Grundschule in queeren Sexualpraktiken inklusive dem Einsatz von Sexspielzeug geschult, während die Werte der „klassischen Familie“ immer mehr vergessen werden. Es gab Demonstrationen und umjubelte Reden – alles zum Schutz der Kinder.
Gleiches geschieht derzeit auch anderenorts, von den USA bis hin zu unserem Nachbarland Polen, wo ein queerfeindlicher Gesetzentwurf beinahe die Zensur an allen Grundschulen eingeführt hätte. Das neue Gesetz hätte vorgesehen, dass Lehrer:innen künftig ihren Unterrichtsstoff zwei Monate vor Beginn des Schuljahres bei einer neuen Behörde des Schulministeriums einreichen und genehmigen hätten lassen müssen. Jedes Thema rund um LGBTQIA+ sollte dabei streng verboten werden, denn man wolle die jungen Bürger:innen zu Nationalstolz und Patriotismus erziehen.
Polen stoppte umstrittenes Gesetz im letzten Moment
Geistiger Vater des Gesetzentwurfes ist Bildungsminister Przemyslaw Czarnek, weswegen die Polinnen und Polen den Gesetzestext kurz „Lex Czarnek“ tauften. Überraschend hatte im März der polnische Präsident Andrzej Duda den fertigen Gesetzentwurf in letzter Instanz vorläufig gestoppt, allerdings nur, um kritische Stimmen aus der Opposition und der Bevölkerung zum Schweigen zu bringen. Duda wollte angesichts des Ukraine-Krieges Einigkeit demonstrieren und machte trotzdem klar, dass er dem neuen Gesetz in weiten Teilen wohlwollend gegenüberstehe: „Dieser Gesetzentwurf enthält eine Reihe von Lösungen, die ich befürworte und von denen ich glaube, dass sie eingeführt werden sollten. Ich habe aber beschlossen, dieses Gesetz erst später zur erneuten Prüfung vorzulegen.“
Verschoben ist ja bekanntlich nicht aufgehoben – und was in Polen gerade so gut funktioniert hat, könnte doch auch eine Blaupause für Deutschland werden? Die Machtverhältnisse in Deutschland sind glücklicherweise anders verteilt, doch Bildung ist bekanntlich Ländersache. Was würde also künftig einzelne Bundesländer daran hindern, ähnliche Ideen vor Ort umzusetzen, wenn sich die Mehrheitsverhältnisse ändern?
Studie: Besonders viele junge Menschen outen sich als queer
Es sei dahingestellt, wie realistisch diese Überlegungen sind, doch bleibt da diese eine Frage, liebe „besorgte“ Eltern: Glaubt ihr das wirklich? Lässt man einmal all jene außer Acht, die aus politischem Kalkül und mit Blick auf die Wählerstimmen solche Projekte unterstützen und fördern, bleibt doch trotzdem eine erhebliche Anzahl von Menschen übrig, die diese oder ähnliche Vorschläge für interessant halten. Wie kann das sein?
Machen euch die Fakten und Erhebungen zur jüngsten Generation Z Angst? Ähnlich wie in Deutschland definieren sich auch in den USA gute sieben Prozent der gesamten Bevölkerung als queer, wobei die Zahlen bei den Jüngsten (geboren zwischen 1997 und 2003) deutlich vom Durchschnitt abweichen: Laut der Gallup-Studie von 2021 definiert sich jeder fünfte junge US-Mensch als queer – verlässliche Zahlen diesbezüglich gibt es aus Deutschland noch nicht, die Tendenz scheint aber klar. Werden also alle plötzlich queer? Bisher zeigen die Fakten anderes und auch mit Blick auf die vorangegangenen Generationen zeigt sich, dass „nicht plötzlich alle schwul geworden sind“, sondern jungen Menschen nur verstärkt die Chance gegeben wird, sich selbst ohne Ängste definieren zu dürfen.
Also, liebe besorgte Elternschar, woher kommt dann dieser Gedanke, dass beispielsweise eine Mathematikaufgabe, in der zwei schwule Männer erwähnt werden, eure Kinder homosexuell macht? Oder denkt ihr, dass eure Kinder die Fassung verlieren, nur weil eine lesbische Lehrerin in einem Nebensatz ihre Ehefrau erwähnt?
Queere Aufklärung ist seit langem überfällig
Wenn das stimmen würde und Lehrer:innen mit wenigen Sätzen so eine Macht über das gesamte restliche Leben und vor allem über die Sexualität eines jungen Menschen haben würden, dann müsste ich ein heterosexueller Mann sein, der Frauen abwertend nur „Schätzchen“ nennt, ausländische Mitbürger:innen für grundsätzlich geistig Zurückgebliebene hält und der festen Auffassung ist, dass Vergewaltigungen von Frauen gar keine sind, denn irgendwie „wollen das Frauen ja doch“ – all das und noch viel mehr wurde mir mehrfach von Lehrer:innen in meiner Schulzeit erklärt. Ich möchte nicht spoilern, aber so denke ich nicht.
Und ich bin auch nicht heterosexuell – und das, obwohl während meiner gesamten Schulzeit von der Grundschule bis hinauf zum Gymnasium nicht ein einziges Mal über Homosexualität oder gar andere queere Lebensentwürfe abseits der Heterosexualität berichtet wurde. Der gesamte Sexualkundeunterricht bestand in meinem Leben aus einer Schulstunde, in der uns erstaunten Kindern erklärt wurde, dass Mädchen schnell schwanger werden könnten und dies dann auch ihre Schuld sei, denn sie hätten für die Verhütung zu sorgen. Nun mag sich die Frage nach meinem Alter stellen – sagen wir es so: Ich habe die Schule zur Jahrtausendwende verlassen, es ist also noch nicht ganz so lange her, wie man vielleicht meinen möchte.
Rückblickend hätte ich mir mehr queere Aufklärung gewünscht, um schneller zu verstehen, dass mit mir nichts falsch ist, um mich nicht einsam oder deplatziert zu fühlen, um schneller Anschluss an andere Menschen aus der LGBTQIA+-Community zu finden oder einfach nur, um ganz nebenbei mitzubekommen, dass queeres Leben im besten Wortsinn „normal“ ist. Ich wäre damit noch lange kein besserer Mensch geworden, aber es hätte mein Leben leichter gemacht – und ist es nicht das, was ihr auch euren Kindern wünscht? Es gibt kein Schulfach „Queer – wie werde ich es in 10 Schritten?“ und es besteht auch keine Gefahr, dass eure Kinder deswegen eher schwul, lesbisch oder queer werden. Ein inklusiver Schulunterricht schafft einfach nur Raum, um nachdenken zu dürfen, nachfragen zu können, angstfrei ehrlich sein zu wollen. Bestenfalls entwickeln sich daraus junge Menschen, die mutig, weltoffen und neugierig in ihr Leben gehen, unabhängig davon, mit wem sie ins Bett gehen und wie ihre Sexualität aussieht.
Wäre das nicht auch euer Ziel, eure Kinder zu solchen Menschen zu machen? Vielleicht ist es dann an der Zeit, nicht jedes Mal Politiker:innen blindlings und unkritisch hinterherzulaufen, wenn sie einmal mehr sinnentleert aus politischem Kalkül heraus vom „Schutz unserer Kinder“ faseln.