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„Bedrohliche Situation“: Queere Ukraine-Geflüchtete fallen in Deutschland oft durchs Raster, warnen Experten

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Queere Geflüchtete aus der Ukraine leben in Deutschland in einem Zwei-Klassen-System – Menschen aus Drittstaaten werden benachteiligt.
Die Flucht queerer Geflüchteter aus der Ukraine ist schwierig – ebenso ihre Situation in Deutschland. (Symbolbild) © Carsten Koall/dpa/Addictive Stock/IMAGO

Queere Geflüchtete aus der Ukraine haben es schwer: Besonders, wenn sie keine ukrainische Staatsangehörigkeit haben, sagt Stephan Jäkel von der Schwulenberatung Berlin.

Seit über zwei Monaten sorgt der Ukraine-Krieg inzwischen für Entsetzen. Tagtäglich diskutieren Politiker*innen darüber, wie dem Schrecken vielleicht doch zeitnah ein Ende gesetzt werden könnte. Die Vereinten Nationen gehen inzwischen von rund zehn Millionen Menschen aus, die insgesamt aus der Ukraine in die umliegenden Länder geflohen sind beziehungsweise zeitnah noch werden – darunter nach seriösen Schätzungen auch rund 600.000 queere Menschen. 

Queere Geflüchtete aus der Ukraine: Lage von Menschen aus Drittstaaten viel prekärer

Dabei zeigt sich, es gibt eine Art von Zwei-Klassen-System innerhalb der geflüchteten queeren Menschen aus der Ukraine, wie der Abteilungsleiter für Flucht und HIV-Prävention, Stephan Jäkel, von der Schwulenberatung Berlin gegenüber Buzzfeed News Deutschland berichtet: „Es sind ja nicht nur queere Ukrainer geflüchtet, sondern auch queere Geflüchtete aus der Ukraine, die in der Ukraine gearbeitet und studiert haben, ursprünglich aber aus einem Drittstaat kommen. Die Ängste dieser queeren Menschen sind noch einmal viel größer.“ Hintergrund dieser Angst ist die Tatsache, dass geflüchtete LGBTQIA+-Menschen aus der Ukraine, die ursprünglich aus einem anderen Land kommen, in Deutschland nicht unter den Paragraf 24 des Aufenthaltsgesetzes fallen. 

Ab dem ersten September werden diese Menschen nach jetzigem Stand ein normales Asylverfahren durchlaufen müssen und verlieren dabei ihren bisherigen, sogenannten „visumsfreien Aufenthalt.“ Das bedeutet keine Unterbringungspflicht, keine freie Ortswahl, keine Beschäftigungserlaubnis und am Ende höchstwahrscheinlich eine Ausweisung zurück in ihr ursprüngliches Heimatland. Das Zwei-Klassen-System wird auch in diesem Artikel sichtbar, in dem wir über eine Hamburger Flüchtlingsunterkunft schreiben, die nur für Ukrainer:innen verlängert wurde – Menschen aus Drittstaaten müssen ausziehen.

Für queere Menschen eine besonders prekäre Situation, da sie oftmals aufgrund ihrer Sexualität oder Geschlechtsidentität aus ihrer Heimat in die Ukraine geflohen waren. In den aktuellen Kriegswirren fallen sie nun durch das Raster. Nicht selten kommen jene queeren Drittstaaten-Menschen zum Beispiel aus Tschetschenien oder Russland, wo ihnen Verfolgung, Gewalt und sogar der Tod droht. Auch in Deutschland sind Straftaten gegen queere Menschen um 50 Prozent gestiegen.

„Es ist ein Skandal, dass queere Geflüchtete aus der Ukraine so ungleich behandelt werden“

„Das ist wirklich eine sehr bedrohliche Situation. Und ein Skandal, dass queere Geflüchtete aus der Ukraine abhängig von ihrer Staatsangehörigkeit so ungleich behandelt werden“, so Jäkel weiter. Er und sein Team verstehen nicht, warum sich die Bundesregierung bis heute weigert, ein wenig mehr Menschlichkeit zu beweisen. „Dabei gäbe es hier die Möglichkeit, etwas zu ändern.

Die Europäische Kommission hat den Mitgliedsstaaten den Gestaltungsspielraum zugestanden, selbst zu entscheiden, wie sie mit Drittstaaten-Angehörigen umgehen wollen. Leider lässt ein Schreiben des BMI zur Umsetzung der Massen-Zustrom-Richtlinie von Mitte April vermuten, dass Deutschland in der schwierigen Situation von Drittstaaten-Geflüchteten eine äußert harte, diskriminierende Linie fahren will“, so Jäkel weiter. 

Die Flucht queerer Geflüchteter aus der Ukraine ist immer eine traumatische Erfahrung

Die Schwulenberatung in der Landeshauptstadt wurde in den vergangenen zwei Monaten zu einem der größten Dreh- und Angelpunkte für queere Geflüchtete aus der Ukraine – rund 400 LGBTQIA+-Personen konnte die staatlich geförderte Beratungsstelle bereits helfen, in der Mehrzahl dabei lesbischen Frauen und transsexuellen Männern. Für homosexuelle Männer und transsexuelle Frauen ist eine Ausreise durch die ausgerufene Wehrpflicht in der Ukraine nur heimlich möglich. Die traumatischen Erfahrungen sind sich ähnlich, unabhängig davon, wie die queeren Menschen ihre Heimat verlassen haben.

In tiefergehenden, psychologischen Gesprächen kümmert sich das Team der Schwulenberatung Berlin um jene Menschen. Jede Woche nutzen rund ein Dutzend LGBTQIA+-Personen aus der Ukraine das Angebot. Dabei zeigt sich laut Jäger auch: Die meisten queeren Geflüchteten verdrängen die Erlebnisse oft über Wochen und finden erst in einer sicheren und längerfristigen Unterbringung die Ruhe und Möglichkeit, das erlebte Grauen zu verarbeiten. Neben dem Krieg belastet auch die Corona-Pandemie besonders queere Jugendliche sehr – sie haben Depression und Suizidgedanken.

Queere Geflüchtete aus dem Ukraine-Krieg: Wohin werden sie verteilt?

Doch genau hier, bei der Unterbringung, gibt es bisher weitere Probleme: Zum einen gibt es nach wie vor schlicht zu wenig Unterbringungsmöglichkeiten von staatlicher Seite speziell für LGBTQIA+, damit diese nach der Flucht vor Krieg, Gewalt und homophoben Russ:innen nicht in einer Einrichtung in Deutschland erneut queerfeindlich angegriffen werden. Zum anderen ist die bisherige Vorgehensweise bei der Verteilung der Geflüchteten für queere Menschen nicht sinnvoll geregelt.

„Wir müssen festhalten, dass wir in den ländlichen Regionen Deutschlands in den verschiedensten Bundesländern nicht einmal flächendeckend professionelle Beratungsstrukturen für nicht-geflüchtete LGBTQIA+ haben, geschweige denn für geflüchtete LGBTQIA+. Wie soll es dann Kompetenz, Ressourcen, Sensibilität und Sprachkompetenz gegenüber queeren Geflüchteten geben? Niedersachen ist eins von mehreren flächenmäßig großen Bundesländern, in denen die Beratungsstruktur für queere Menschen äußerst prekär ist. Wir können doch nicht erwarten, dass sich queere Menschen freiwillig dorthin verteilen lassen und dass sie dort gut aufgehoben sind“, so Jäger gegenüber Buzzfeed News Deutschland

Oftmals verbleiben queere Geflüchtete so lieber in Privatunterkünften, auch wenn diese zumeist nur wochenweise zur Verfügung stehen. Die Möglichkeit, so dauerhaft ein wenig zur Ruhe zu kommen, ist dabei natürlich nicht gegeben. Positiv sei laut Jäger allerdings das Management bei der Ersthilfe vor Ort, beispielsweise am Berliner Hauptbahnhof, aber auch in den darauffolgenden Community-Einrichtungen: „Diese Verfahren sind in den letzten Wochen ein wenig implementiert geworden. Mittlerweile greift auch für queere Geflüchtete eine bessere Struktur, die aber hauptsächlich auf zivilgesellschaftliches Engagement fußt.“ Ohne die Hilfe der stark vernetzten queeren Community und der Arbeit der Queeren Nothilfe Ukraine, einem Zusammenschluss von rund 50 queeren Organisationen aus Deutschland, sei das alles nicht zu bewerkstelligen, so Jäger abschließend. 

Autor: JHM Schmucker 

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