Wie viele andere habe auch ich während meiner Schulzeit und während meines Studiums immer wieder als Bedienung gearbeitet. Vom urigem schwäbischen Restaurant, übers Weindorf, Catering für Hochzeiten, einem indischen Restaurant in England und veganem Imbiss war alles dabei. Mit 17 begann ich meine „Gastro-Karriere“, in einem dörflichen Restaurant mit schwäbischer Küche. Ich erinnere mich noch gut an die ersten Male, als ich Trinkgeld bekam. Es hat sich super angefühlt, war aufregend.
Irgendwie (das muss ich zugeben) war Trinkgeld gerade zu Beginn immer eine riesige Motivation für mich. Jeder Tisch mit neuen Gästen war eine neue Chance, einen guten Job zu machen und den Personen einen schönen Abend zu ermöglichen. Trinkgeld hatte für mich damals eine ähnliche Funktion, wie Noten in der Schule. Es zeigte mir (so dachte ich jedenfalls), ob ich den Job gut gemacht hatte – oder, ob es eben nur so lala war.
Doch je länger ich in besagtem Restaurant arbeitete, desto mehr merkte ich, dass Trinkgeld keine exponentiell wachsende Funktion ist, die eins zu eins an die Zufriedenheit der Gäste gekoppelt ist. Da gab es schließlich diesen einen Stammgast, der immer wieder kam und bei seinem Bier nur wenige Cent aufrundete – er zeigte seine Zufriedenheit mit einem glücklichen Lächeln oder einem netten Smalltalk.
Dass Trinkgeld für mich immer mehr in den Hintergrund rückte, hat noch einen weiteren Grund: In vielen Restaurants und Cafés, gerade in denen, die viele Minijobber angestellt haben, wird das Trinkgeld im Team aufgeteilt. Ist ja auch nur fair – weswegen sollte der:die Köch:in kein kleines Extra bekommen? Ich glaube, dass diese Tatsache aber immer noch vielen Menschen nicht bewusst ist. In meinen diversen Jobs in verschiedenen Restaurants und Catering-Firmen bekam ich kein einziges Mal direkt das Trinkgeld, das meine Gäste mir zahlten. Immer war ich auf das Wohlwollen meiner Chef:innen angewiesen, die das überschüssige Geld am Ende der Schicht im Team aufteilten. Manchmal war es mehr, manchmal weniger – im Schnitt vielleicht zehn Euro pro Arbeitstag.
Versteht mich nicht falsch: Auch zehn Euro sind nicht schlecht, wenn man nur Mindestlohn verdient. Aber wäre mir damals ein höherer Stundenlohn lieber gewesen, als Trinkgeld? Auf jeden Fall. Denn mit Trinkgeld kann man keine Miete planen und auch kein Spotify-Abo bezahlen – denn man weiß nicht, ob und wie viel Geld da zusammenkommt. Auch als Studentin hat man regelmäßige Ausgaben, die gezahlt werden wollen. Gerade Studierende und junge Menschen in Niedriglohnjobs betrifft Armut derzeit wieder stark. Bei einem Job auf dem Weindorf war der Betrieb beispielsweise stark vom Wetter abhängig. Wenn es aus Kübeln schüttet und vielleicht zehn Gäste auftauchen, sieht es mit Trinkgeld eher mau aus. Auch dann, wenn ein Essen nicht schmeckt oder man einen Fehler macht, wird beim Trinkgeld sowieso nur aufgerundet.
In einem Fast-Food-Restaurant habe ich noch nicht gearbeitet. Aber diese Personen hier schon. Hier sind 13 Dinge, die du schon immer von einem McDonald’s-Mitarbeiter wissen wolltest.
Und Spoiler Alert: Fehler passieren – auch nach jahrelanger Erfahrung. Wir sind auch nur Menschen, vergessen mal eine Bestellung oder verschütten mal ein Getränk. Trinkgeld befeuert den Gedanken einer Leistungsgesellschaft, in der es nur darum geht, besser, schneller und freundlicher zu sein als alle anderen. Und seien wir mal ehrlich: Natürlich geht es auch ums Aussehen. Gerade in der Gastronomie gibt es vielleicht doch einen Euro mehr, weil die Bedienung „so freundlich gelächelt hat“ oder sich halt doch auf die Witze von Boomern einlässt, die schon ein paar Bierchen zu viel intus haben. Trinkgeld ist der Preis für Sexismus in der Gastronomie – wer das leugnet, hat noch nicht oft genug in dieser Branche gearbeitet.
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Es ergibt nur Sinn, denn die Ursprünge des Trinkgelds liegen im 19. Jahrhundert, wo es noch nicht lange her war, dass die Sklavenhaltung abgeschafft wurde. Die Süddeutsche Zeitung (SZ) beschreibt in einem Artikel, dass sich das Trinkgeld zu „einem Mittel sozialer Distinktion“ entwickelte, „durch das sich selbst noch der Kleinbürger von den Unterschichten abgrenzen konnte“. Kritische Stimmen sahen im Trinkgeld damals ein Symbol für Entmenschlichung. Trinkgeld fördere eine „knechtische Gesinnung“ hieß es und würde weibliche Bedienstete zur Prostitution zwingen. Es gab damals mehrere Versuche, Trinkgeld abzuschaffen: In den USA, wo das Trinkgeld heute noch wichtiger ist als bei uns in Deutschland, galt es lange als antidemokratisch und „unamerikanisch“ – war Mitte des 19. Jahrhunderts sogar strafbar.
Heute ist Trinkgeld eine Form der Höflichkeit. Wer keins gibt, gilt als „geizig“. Aber was ist mit Personen wie Anna*, die sich Trinkgeld einfach nicht leisten können? Und warum können Menschen in der Gastronomie nicht über den Preis der Speisen und Getränke bezahlt werden – so wie eben auch ihr:e Arbeitgeber:innen, die das Trinkgeld in vielen Fällen sowieso verteilen? Mir leuchtet das nicht wirklich ein. Denn, wie auch diese Nutzerin (siehe unten) aufführt, bekommen Reinigungskräfte, Krankenhauspersonal und viele weitere auch kein Trinkgeld, obwohl ihr Job genauso viel wert sind und auch nur Mindestlohn abwirft. So auch Einzelhandels-Verkäufer:innen, die hier schlimme und dreiste Dinge teilen, die Kund:innen getan haben.
Natürlich möchte ich nicht, dass wir alle aufhören, Trinkgeld zu geben. So wie auch @EliyahHavemann in einem gesonderten Tweet klarstellte, geht es nicht darum. Würden wir alle aufhören, Trinkgeld zu geben, wäre wahrscheinlich niemandem geholfen. Aber: Das Konzept des Trinkgelds ist unfair. Es befeuert eine Leistungsgesellschaft, in der ich eigentlich nicht leben möchte, denn viele junge Menschen der Generation Z haben schon jetzt Burnouts – hier 5 Gründe, warum.
Ich finde es nicht ok, dass die eine Personengruppe Trinkgeld bekommt, weil sie Menschen bedient, während die, die ihnen den Ar*** abwischt, leer ausgeht. Trinkgeld tut so, als ob es Leistung belohnt, ist aber eigentlich nicht nur sexistisch und oberflächlich, sondern auch historisch erniedrigend.