Ständig nur noch Streik? Das Gefühl täuscht, sagt Expertin

In Deutschland streiken Menschen weniger als in anderen Ländern. Warum es sich trotzdem mehr anfühlt und wie jeder von uns von Streiks profitieren kann.
In diesen Tagen kommt es bundesweit zu vielen Streiks – bei der Post, im öffentlichen Nahverkehr, in Kitas oder Flughäfen. Gefühlt können wir uns vor Streiks nicht mehr retten. Stimmt dieser Eindruck? Und sind Deutsche besonders streitlustig? Der Bayerische Rundfunk (BR) hat Johannna Wenckebach, die wissenschaftliche Direktorin des Hugo-Sinzheim-Instituts für Arbeits und Sozialrecht (HSI) gefragt.
Ende der Pandemie und Inflation führen zu mehr Streiks, sagt Expertin
Tatsächlich streiken die Deutschen zurzeit mehr und intensiver, bestätigt Wenckeback beim BR. Aus der Zeit der Pandemie, in der keine Streiks stattfinden konnten, sei einiges nachzuholen. Hinzukommt, dass die Debatte über die Wichtigkeit von systemrelevanten Berufen in diesem Zeitraum erst richtig in Fahrt kam. Zum Beispiel klatschten die Menschen an den Fenstern für Pfleger:innen. Nicht nur die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) fordert bessere Arbeitsbedingungen und Gehälter.
„Es hat sich mit dem Ende der Pandemie nicht erledigt, dass die Arbeitsbedingungen so schlecht sind, dass Menschen bestimmte Berufe, die wichtig für uns als Gesellschaft sind, nicht mehr ausüben wollen“, sagt Wenckeback. Ein neues Bedürfnis, dass es so vorher nicht gab, rege die Menschen ebenfalls zum Streik an: „nämlich mit dieser Inflation klarzukommen“.
Wahrnehmung, wie viel gestreikt wird, kann täuschen
Von einer streiklustigen Nation kann trotz der aktuellen Streiks nicht die Rede sein, macht Wenckeback im BR deutlich. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland ihr zufolge weiterhin im Mittelfeld. „Es gibt weniger Arbeitstage, die streikbedingt ausfallen, als in Ländern wie Frankreich, Finnland, Spanien, Dänemark“, sagt sie. Grund sei, dass in Deutschland auf betrieblicher Ebene bereits viele Konflikte geregelt werden, die in anderen Ländern zu Streiks führen.
Die Wahrnehmung, wie viel und wie heftig gestreikt wird, kann täuschen, erklärt Wenckeback beim BR. Ob wir einen Streik überhaupt wahrnehmen, hänge nämlich davon ab, wie sehr man als Kund:in davon betroffen ist. „Wenn die Bahnen mal nicht fahren, bekommt man das deutlicher mit und es erscheint einem viel größer, als wenn Millionen Beschäftigte, was in den letzten Jahren auch passiert ist, in 24h-stündige Aufstände in der Metall- und Elektroindustrie treten.“
Streiks können nicht nur für Betroffene einen Vorteil haben
Wenckeback weist beim BR darauf hin, dass Streik nicht nur für die Betroffenen, sondern für alle Menschen einen Vorteil haben könne. Ein Streik im ÖPNV führt oftmals zu Ärger. Dabei könnten Bahnkund:innen ja auch den Hinweis von Wenckeback bedenken: „Oft fallen Züge ja nicht aus, weil gestreikt wird, sondern weil der Krankenstand zu hoch ist und es zu wenige Beschäftigte gibt, die Lust haben, diese Arbeit auszuüben.“
Bessere Arbeitsbedingungen im öffentlichen Dienst können also zu Entlastungen auf beiden Seiten führen. So finden auch Eltern keinen Kitaplatz, wenn es nicht genug Erzieher:innen gibt. Arbeitsbedingungen und geringer Gehalt im Erzieher-Job schrecken besonders junge Männer ab.