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Queer-Bundesbeauftragter bittet die Ukraine: „Lassen Sie gefährdete Menschen ausreisen“

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Von: Anna-Katharina Ahnefeld

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Der Grünen-Politiker Sven Lehmann ist der erste Beauftragte der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt.
Der Grünen-Politiker Sven Lehmann ist der erste Beauftragte der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. © dpa/Collage

Die Situation der LGBTQIA+-Community im Ukraine-Krieg ist dramatisch. Der Queer-Beauftragte der Bundesregierung, Sven Lehmann, richtet einen Appell an Präsident Selenskyj.

Der Ukraine-Krieg ist auch ein Krieg gegen Errungenschaften der LGBTQIA+-Community vor Ort. Insbesondere die ukrainische Hauptstadt Kiew war in den vergangenen Jahren Zufluchtsort queerer Menschen – auch aus umliegenden Ländern wie Russland, Ungarn und Polen. So wie die Demokratie in der Ukraine Knospen schlug, entwickelte sich die queere Szene der Hauptstadt. Die Ukraine hatte zwar noch keine Gleichstellung queerer Lebensweisen, keine gleichgeschlechtliche Ehe und Hassverbrechen waren weiter verbreitet. Dennoch gab es wichtige Fortschritte.

Die Diskriminierung queerer Menschen am Arbeitsplatz wurde 2015 verboten. Trans Personen wurde es zumindest etwas erleichtert, ihren Rechtsstatus zu ändern. Und Präsident Wolodymyr Selenkskyj kanzelte kurz nach seiner Wahl 2019 einen homofeindlichen Zwischenrufer ab. Es gab eine Perspektive. Bis zum 24. Februar 2022. Jetzt herrscht Krieg. Und vulnerable Minderheiten wie die queere Community sind besonders gefährdet. Laut eines Berichts des UN-Flüchtlingskommissariats aus dem Jahr 2021 erleiden sie in solchen Notsituation häufiger Stigmatisierung, sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt, Missbrauch durch Sicherheitskräfte und weitere Diskriminierungsformen.

Der Grünen-Politiker Sven Lehmann ist der erste Beauftragte der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Mit ihm spricht BuzzFeed News Deutschland über die Situation queerer Menschen in der Ukraine, die Gefahr, in der sich die LGBTQIA+-Community durch die Invasion russischer Truppen befindet – und über seine dringende Bitte an die ukrainische Regierung.

Ukraine-Krieg: Queer-Bundesbeauftragter Sven Lehmann bittet um Ausreise queerer Menschen

Wie ist die Situation queerer Menschen in der Ukraine aktuell?

Die Situation queerer Menschen in der Ukraine ist dramatisch. Die LGBTIQ-Community wird gerade von verschiedenen Seiten in die Zange genommen. Natürlich von Putins Armeen, vom Krieg, aber auch von Rechtsextremen im eigenen Land. Organisationen wie Kyiv Pride haben in den vergangenen Jahren für eine demokratische Ukraine gekämpft. Russische und belarussische LGBTIQ-Personen sind in die Ukraine geflüchtet, weil sie sich dort ein besseres Leben erhofft haben. Jetzt ist Krieg und viele können nicht ausreisen. Die Menschen und die Organisationen fürchten um ihre Existenz, für den Fall, dass Putin diesen Krieg gewinnen sollte.

Das bedeutet, dass Putins Krieg auch ein Krieg gegen die Fortschritte der LGBTQIA+-Community ist?

Absolut. Und man muss sich mal überlegen: Nach der orangenen Revolution ist die Ukraine den Weg in Richtung einer Demokratie gegangen. Eine lebendige Zivilgesellschaft hat sich entwickelt. Kiew wurde plötzlich eine Stadt, in die LGBTIQ-Menschen von weiter östlich hinziehen. Russland geht seit vielen Jahren gegen queere Menschen vor, das sehen wir an den Anti-Homosexuellengesetzen, den Verfolgungen und Erniedrigung von trans Personen. Einfach, weil sie ein starkes Symbol der Freiheit sind, der Freiheit, so zu leben und zu lieben, wie man möchte. Aktuell kursieren Gerüchte über sogenannte russische Todeslisten im Ukraine-Krieg, die aus den USA stammen. Ich habe keine Bestätigung dafür, aber die Existenz dieser Listen wurde bisher auch nicht verneint. Die Gefahr für die queere Community ist groß, sollte Putin den Krieg gewinnen.

Männer dürfen die Ukraine aktuell nicht verlassen. Das betrifft auch trans Frauen, in deren Pass noch das männliche Geschlecht vermerkt ist. Trotz aller Lobeshymnen auf den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ist das zu kritisieren, oder?

Ja, das treibt mich aktuell stark um. Ich bitte die ukrainische Regierung: Lassen Sie besonders gefährdete Menschen ausreisen. Dazu gehören LGBTIQ-Personen und aktuell besonders trans Frauen. Diese können gerade nicht in sichere Landesteile gelangen oder das Land verlassen, weil sie interne Checkpoints aufgrund der Generalmobilmachung nicht passieren können. Es gibt aktuell das berühmte Beispiel der Sängerin Zi Faámelu, eine trans Frau, die die Ukraine nicht verlassen durfte. Zum Glück hat sie es nach vielen Versuchen jetzt geschafft. Selbstverständlich hat die Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung. Aber schwule, bisexuelle Männer und trans Menschen haben auch das Recht auf Schutz ihres Lebens.

Selbstverständlich hat die Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung. Aber schwule, bisexuelle Männer und trans Menschen haben auch das Recht auf Schutz ihres Lebens.

Sven Lehmann, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und neuer Beauftragter der Bundesregierung für die Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt 

Ukraine-Krieg: Queer-Bundesbeauftragter Sven Lehmann zu Situation der LGBTQIA+Community

Sagen wir, die Flucht gelingt, aber diese Menschen stranden zunächst in Ungarn oder Polen, die für ihre queerfeindliche Politik bekannt sind. Werden Sie sich dafür einsetzen, dass diese Menschen sicher weiterziehen können, beispielsweise nach Deutschland?

Ja. Die meisten Menschen aus der Ukraine sind nach Polen geflüchtet. Aber nicht alle Menschen sind in allen europäischen Ländern gleich sicher. Die „Queere Nothilfe Ukraine“ macht aktuell einen beeindruckenden Job. Zig Verbände und Initiativen haben Geld gesammelt und sorgen dafür, dass hier in Deutschland Unterkünfte bereitgestellt und Betten vermittelt werden. Das Verkehrsministerium hat angekündigt, dass es eine sichere Zugverbindung geben soll, über die Menschen aus der Ukraine oder aus Polen direkt nach Deutschland weiterreisen können. Die Innenminister, auch europaweit, müssen dabei darauf achten, dass besonders schutzbedürftige Personen nicht in Ländern kommen, in denen sie weitere Diskriminierung erleiden müssen. Polen, Rumänien und Ungarn sind leider, gerade für trans Personen, kein sicherer Hafen. Es muss gewährleistet werden, dass queere Menschen in einem für sie sicheren Land in der europäischen Region ankommen.

Betrachten wir einmal das große Bild. Wie muss eine queere Außenpolitik aussehen, damit diese Menschen besonders geschützt werden?

Bei aller Diplomatie – die Basis einer friedlichen Außenpolitik – müssen Menschenrechtsverletzungen trotzdem immer angesprochen werden. Man muss sie öffentlich machen und sich an die Seite von Menschenrechtsorganisationen in den Ländern stellen. Es ist ermutigend, dass unsere Bundesaußenministerin Annalena Baerbock genau das macht und einen neuen Stil an den Tag legt. Die ganze Wirtschafts- und Entwicklungspolitik muss daran ausgerichtet werden, ob Länder Menschenrechtsstandards einhalten. Das Verschweigen aus diplomatischen Gründen ist in der Vergangenheit viel zu oft passiert. Ich war selbst vor eineinhalb Jahren in Polen und die Aktivist:innen haben uns klar gesagt, dass sie gehört und gesehen werden wollen. Das stärke auch den Kampf in den Ländern. Natürlich kann Deutschland nicht die Gesetze in anderen Ländern ändern, aber wir können die Zivilgesellschaft dort stärken. Mir ist wichtig, dass die Außenpolitik diese Menschen und ihre Unterdrückung überhaupt erstmal zum Thema macht. Homo- und transfeindliche Politik ist oft der erste Vorbote für eine totalitäre Politik insgesamt. Das können wir gut am Beispiel Russland sehen. Die queere Community warnt bereits seit zehn Jahren vor der Entwicklung dort. Das hätte man viel ernster nehmen müssen.

Im Ukraine-Russland-Krieg verbreiten sich immer neue Schreckensmeldungen im Netz. Darunter befinden sich auch Desinformation. BuzzFeed News Deutschland führt einen fortlaufenden Fake-News-Ticker zu irreführenden Informationen und Gerüchten.

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