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Russland beschießt Routen, auf denen Ukrainer:innen flüchten - „wir stehen unter Schock“

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Bedeckte Leichen liegen am Straßenrand.
Die Leichen von Menschen, die durch russischen Beschuss getötet wurden, liegen am 6. März auf der Straße in Irpin, Ukraine. © Diego Herrera Carcedo / AP

Russland bringt mit dem Ukraine-Krieg Tod und Chaos nach Irpin: Flüchtende Ukrainer:innen sind bei ihrem Versuch, zu einem Kiewer Bahnhof zu gelangen, brutalen Angriffen ausgesetzt.

Als Katerina Oleksiivna am Sonntag nach zehn Tagen ihr Versteck im Keller ihres Hauses verließ, fand sie alles, was sie sehen konnte, völlig zerstört vor, auf der Straße lagen Leichen. Die 74-Jährige sagte, sie habe die vergangenen zehn Tage damit verbracht, Schutz vor russischen Raketen, Mörsern und Panzerbeschuss zu suchen. Währenddessen hatte sie die meiste Zeit keine Heizung, keinen Strom und kein Wasser und lebte hauptsächlich von Gemüsekonserven und altem Brot. Sie hatte keine Nachrichten gesehen oder gelesen, konnte aber die Explosionen über der Erde hören und ihre Wucht tief unter der Erde spüren.
Verängstigt und verwirrt sucht sie zitternd nach Worten, um die schreckliche Situation zu begreifen. Den Krieg in Russland und den Tod, den er verursacht hat, aus nächster Nähe zu sehen war absolut furchtbar, erklärte sie, während sie sich mit den Händen bekreuzigte.

„Ist der Krieg überall?“, fragte die 74-jährige Katerina Oleksiivna, die nach 10 Tagen ihr Versteck verließ.

Katerina Oleksiivna gegenüber BuzzFeed News USA

„Ist der Krieg überall?“, fragte sie eine:n Reporter:in von BuzzFeed News USA unter Tränen. Als sie versuchte, noch etwas anderes zu sagen, erschütterte eine Reihe von Explosionen den Evakuierungspunkt, an dem sie mit Dutzenden anderer Bewohner:innen der belagerten Stadt Irpin stand, nur wenige Kilometer westlich von Kiew.
Jeder Schlag brachte Katerina leicht aus dem Gleichgewicht, so dass sie mit einem Stock hinter eine Backsteinmauer humpelte, wo sie Luft holen und schluchzen musste.

Eine Frau wird umarmt.
Menschen umarmen sich, nachdem sie am 6. März mit dem Bus aus Irpin in Kiew angekommen sind. © Pete Kiehart/for Buzzfeed News

Die Kämpfe in und um diese einst ruhige Stadt, die an einer wichtigen Straße in Richtung der geschäftigen ukrainischen Hauptstadt und des Machtzentrums des Landes Kiew liegt, sind unerbittlich. Am frühen Sonntag explodierte eine Granate mitten auf einer Straße, auf der eine Familie versuchte, zu fliehen. Gemäß den Berichten von Reporter:innen direkt Vorort wurden dabei ein Vater, eine Mutter und ein Kind getötet. Der Bürgermeister von Irpin, Oleksandr Markushin, gab bekannt, dass an diesem Tag etwa acht Menschen durch den russischen Beschuss ums Leben kamen. „Zwei Kinder starben vor meinen Augen“, sagte er in einem Video, das er auf seinem Telegram-Kanal veröffentlichte.

Russlands Präsident Wladimir Putin hatte gelogen, als er sagte, dass seine Armee im Rahmen einer „speziellen Militäroperation“ keine Zivilist:innen ins Visier nehme, und auch als er behauptete, sichere Korridore für Menschen geschaffen zu haben, die vor seiner tödlichen Gewalt fliehen wollen. Es gibt erdrückende Beweise dafür, dass russische Truppen in Städten und Dörfern im ganzen Land auf Zivilist:innen schießen, was einer Terrorkampagne gleicht. Die Ermordung einer ganzen jungen Familie und fünf weiterer Personen am Sonntag war nur der jüngste Beweis dafür.

In einer auf seinem Telegram-Kanal veröffentlichten Videoansprache erklärte der ukrainische Präsident Volodymyr Selenskyj unter Berufung auf Informationen, die er von gefangenen russischen Truppen erhalten hatte, dass die Bombardierung ziviler Gebiete von Anfang an Teil des russischen Plans gewesen sei, und bezeichnete sie als „das pure Böse“.

Während die Evakuierung in Irpin nur unter Schwierigkeiten und unter schwerem russischen Beschuss stattfand, scheiterte die geplante Umsiedlung von Einwohner:innen aus den ostukrainischen Städten Wolnowacha und Mariupol an der Intensität des Artilleriebeschusses, der auf die vermeintlich sicheren „grünen Korridore“ abzielte, die für Zivilist:innen gedacht waren.

„Inmitten der verheerenden Szenen menschlichen Leids in Mariupol kam heute ein zweiter Versuch, mit der Evakuierung von schätzungsweise 200.000 Menschen aus der Stadt zu beginnen, zum Stillstand“, schrieb das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. „Die gescheiterten Versuche gestern und heute unterstreichen das Fehlen eines detaillierten und funktionierenden Abkommens zwischen den Konfliktparteien.“

BuzzFeed News US hat ein Team vor Ort in der Ukraine. Verfolge die Berichte von Chris Miller, Isobel Koshiw und Pete Kiehart auf Twitter und lies unsere vollständige Berichterstattung hier.

Während die Bewohner:innen versuchten aus diesen Städten zu fliehen, machten sich viele andere auf den Weg in die Westukraine und über die Grenze in die Nachbarländer Polen, Ungarn, Rumänien, die Slowakei und andere Länder der Europäischen Union sowie nach Moldawien.

„10 Tage. 1,5 Millionen Menschen. Dies ist jetzt die am schnellsten wachsende Krise von Geflüchteten seit dem Zweiten Weltkrieg“, twitterte das UN-Hochkommissariat für Geflüchtete am Sonntag. „In den kommenden Tagen werden Millionen weitere Leben entwurzelt werden, wenn dieser sinnlose Konflikt nicht sofort beendet wird.“

Das UNHCR erklärte, dass es „1.123 zivile Opfer in dem Land: 364 Tote und 759 Verletzte“ verzeichnet habe - sehr wahrscheinlich sind es aber noch viel mehr. In Irpin hatten die meisten Menschen, mit denen BuzzFeed News USA am vergangenen Wochenende sprach, keine Ahnung, wohin sie gehen sollen. Sie wollten einfach nur in Sicherheit sein. Sie hatten nur das bei sich, was sie auf ihrem Rücken und in ihren Händen tragen konnten. Die Erschöpfung und der Stress durch die schweren Bombardements der vergangenen anderthalb Wochen war ihnen deutlich anzusehen.

Menschen aus Irpin kommen in Kiew an.
An einem Sammelpunkt, an dem mehr als 20 gelbe Busse eintrafen, um sie zum Kiewer Hauptbahnhof zu bringen, suchten im Chaos getrennte Familien und Freund:innen verzweifelt nach einander, aus Angst, dass jemand zurückgelassen worden sein könnte. © Pete Kiehart/for BuzzFeed News

Menschen aus anderen Städten kamen nach Irpin um dort nach Verwandten zu suchen, zu denen sie den Kontakt verloren hatten. „Gibt es jemanden aus dem Capital Apartment Complex?“, fragte ein Mann. Als Vadym und seine Familie die andere Seite einer Brücke in Irpin erreichten - die von der ukrainischen Armee vor Tagen gesprengt wurde, um den russischen Vormarsch zu stoppen - und im Evakuierungsgebiet ankamen, waren sie wie vom Blitz getroffen.

„Wir können nicht einmal miteinander reden, siehst du das nicht?“

Vadym und seine Familie sagten, sie wüssten nicht, wohin sie gehen sollten. Sie überlegten sich also einen Plan, als sie mit ihren Rucksäcken und ein paar Plastiktüten auf der Straße standen. In diesem Moment hielt ein Auto an und bot ihnen zwei kostenlose Sitzplätze und den Transport zum Bahnhof an. Vadyms Familie musste das Angebot jedoch ablehnen, da sie zu sechst waren und sich nicht aufteilen wollten. In der Nähe schnitt Tetiana weiße Bettlaken zurecht, die sie ihrem sechsjährigen Sohn und ihren Nichten und Neffen um den Hals band, um sie als Zivilist:innen zu kennzeichnen, damit sie bei ihrem Fluchtversuch nicht erschossen werden würden.

„Wir konnten nicht gehen, bis wir jemanden gefunden haben, der sich um unseren bettlägerigen Verwandten kümmert. Alle, die nicht gehen können, sitzen dort fest“, sagte sie. „Wir haben alle Lebensmittel, die wir finden konnten, bei ihnen gelassen.“

Eine Familie mit Kindern.
Tetiana (links) mit ihren Verwandten, nachdem sie am 6. März mit dem Bus aus Irpin in Kiew angekommen ist © Pete Kiehart/for BuzzFeed News

Tetiana beschrieb, wie russische Panzer durch die zentralen Straßen von Irpin fuhren und „die Art von Gefechten miterlebten, bei denen Häuser dem Erdboden gleichgemacht wurden“.

Sie wartete darauf, dass ihre beiden älteren Kinder im Alter von 23 und 27 Jahren die Brücke überquerten und das Evakuierungsgebiet erreichten, bevor sie entschied, was zu tun sei.
„Wir wissen nicht, wohin wir gehen. Wir gehen einfach irgendwo hin“, sagte sie. „Es war einfach so unheimlich.“

Tetiana schüttelte schockiert den Kopf. „Wir verstehen einfach nicht, warum. Haben Sie eine Antwort?“, fragte sie. „Als sie sagten, dass es einen Krieg geben würde, habe ich gelacht und gesagt: ‚Oh, bitte!‘“
„Wir verstehen das nicht. Wir haben die Hälfte unserer Familie in Russland. Und alle rufen an und sagen: ‚Macht euch keine Sorgen, morgen gehört ihr zu Russland‘“, so Tetiana. „Aber wir stehen unter Schock. Warum wollen wir Russland, wenn wir in der Ukraine friedlich leben können?“ Laut Sveta, einer 60-jährigen Einwohnerin aus Irpin, sei das Leben für die Menschen, die noch immer in der vom Krieg gezeichneten Stadt festsitzen, die Hölle.

„Die Nahrungsmittellieferungen werden bald aufhören. Es gibt kein Gas, keinen Strom und kein Internet. Panzer beschießen Wohnhäuser“

Sveta berichtet, dass die Russen gestern in den Westen Irpins vorgedrungen sein und nun einen Teil der Stadt kontrollieren würden. „Russische Panzer sind die Mechnykova-Straße hinuntergefahren“, sagte sie. „Dort gibt es keine ukrainischen Panzer, sondern russische Scharfschützen.“ Roman, ein Kämpfer der ukrainischen Territorialverteidigung rechne damit, dass Russland in den kommenden Tagen eine Großoffensive von Irpin aus starten werde, um Kiew einzunehmen. Ukrainische Spezialeinheiten, Armeesoldaten und bewaffnete Freiwillige wie er selbst, bereiteten sich auf eine blutige Schlacht vor und hofften, so viele russische „Eindringlinge“ wie möglich zu töten, so Roman. „In ein paar Wochen werden Sie fette obdachlose Hunde sehen und wissen, warum“, sagte er.

Autor:innen sind Christopher Miller und Isobel Koshiw. Der Artikel erschien am 06. März 2022 auf buzzfeednews.com Aus dem Englischen übersetzt von Aranza Maier.

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