Queere Jugendliche zocken: „Desto stiller werden die Stimmen in meinem Kopf“

Gaming kann zur Sucht werden. Sind junge Erwachsene aus der LGBTQIA+-Community wegen ihres „Minderheitenstress“ besonders gefährdet?
Die Gesundheitskasse DAK hat vor kurzem die neusten Daten zur Spielsucht herausgegeben. Demnach sind rund 465.000 Jugendliche in Deutschland so genannte Risiko-Gamer:innen, bei denen die Gefahr zur Spielsucht besteht. Für die repräsentative Studie „Geld für Games“ hat das Forsa-Institut 1.000 Kinder und Jugendliche im Alter von zwölf bis 17 Jahren interviewt. Fragt man die Jugendlichen selbst, sind oftmals Mobbingerfahrungen oder Verdrängungsmethoden Auslöser dafür.
Rund 75 Prozent der Jugendlichen gaben an, damit „gut abschalten“ zu können, beinahe jeder Dritte erklärte, durch die digitalen Welten nicht an „unangenehme Dinge“ denken zu müssen. Etwa 21 Prozent der Risiko-Gamer:innen berichten auch über fortlaufende Sorgen und Ängste. Die Beschreibungen gleichen den Problemschilderungen vieler queerer Jugendlicher, was die Vermutung nahelegt, dass unter den minderjährigen Risiko-Gamer:innen auch ein hoher Prozentsatz queerer Jugendlicher sein könnte, noch dazu, wo sich die befragte Generation Z laut Ipsos Studie 2021 selbst zu 22 Prozent als queer definiert.
Queere Jugendliche und Gaming – „tauche schon immer gern in diese digitale Welt ab“
Vereinfacht umgerechnet käme man auf bis zu 100.000 queere Jugendliche, die Risiko-Gamer:innen sein könnten, auch wenn eine solche Umrechnung trügerisch ist, wie Medienpädagoge Falk Steinborn vom landesweiten LGBTQIA+-Beratungsangebot „anyway“ gegenüber BuzzFeed News DE erklärt: „Wir wissen nicht, ob queere Jugendliche im Bereich Gaming ein gleiches, höheres oder niedrigeres Risiko haben als gleichaltrige Heterosexuelle. Die DAK-Studie gibt dazu keine Auskunft und meines Wissens auch keine andere Studie. Zumal die Geschlechtszusammensetzung bei den Risikogamer:innen auch nicht paritätisch ist und nicht-binäre Jugendliche überhaupt nicht vorkommen als statisches Merkmal.“
Andreas (17) aus München definiert sich selbst als queer und will für sich noch nicht genauer festlegen, auf wen er steht und warum. Gegenüber BuzzFeed News DE erklärt er: „Ich tauche schon immer gern in diese digitale Welt ab, aber seitdem ich mich immer mehr mit mir beschäftige, da beinahe jede Woche neue Fragen in mir aufkommen, die ich momentan für mich nicht beantworten kann, hat das Zocken definitiv zugenommen. Für mich funktioniert das bestens als Ablenkung und je lauter und wilder es um mich herum dröhnt, desto stiller werden die Stimmen in meinem Kopf.“
„In dieser fiktiven Welt können queere Menschen Helden sein“
Ähnlich sieht das auch Gasira. Die 16-Jährige aus Norddeutschland ist trans* und fühlt sich oftmals stark belastet von den teils radikal geführten Diskussionen in der Öffentlichkeit um Selbstbestimmungsrechte und trans*- Menschen generell. „Ich kann manche Kritik am geplanten Gesetz zum Beispiel echt verstehen, aber das darf ich online in meiner trans*-Bubble besser nicht sagen. Gleichzeitig erlebe ich mediale Angriffe auf trans*-Menschen, auch ein absolutes No-Go. Da stecke ich mittendrin, während ich selbst gerade mit meiner Ärztin die ersten Schritte zur Transition gehe. Verdammt verwirrend, das alles. Ich merke einfach, dass es mir guttut, dann Spiele zu spielen.“
Sowohl Gasira als auch Andreas klicken sich je nach Möglichkeit auch über einige Stunden jeden Tag in virtuelle Welten, beide zählen „League of Legends“ als auch „Die Sims“ zu ihren Favoriten. Generell sind Spiele interessant, die es ermöglichen, die Charaktere je nach Wunsch selbst zusammenstellen zu können, im besten Fall gibt es dabei auch queere Rollen. „Ich weiß, das klingt ein wenig albern, aber in dieser fiktiven Welt können queere Menschen Helden sein. Ich kann als Avatar offen leben, kämpfen, existieren. Das fällt in der realen Welt etwas schwer gerade!“, so Andreas, der im Herbst eine Ausbildung beginnen will.
Videospiele sind für LGBTQIA+-Menschen „digitale Sozialräume“
„Für Jugendliche, die Ausgrenzung, Mobbing oder andere Formen von Diskriminierung erfahren – sei es in Schule, Ausbildung oder Familie – sind grundsätzlich alternative Sozialräume attraktiv. Diese können sich in unterschiedlichen Settings finden, sei es in einer Jugendgruppe, in einem bestimmten Hobby oder eben auch in digitalen Sozialräumen. Dazu zählen dann auch Computerspiele, die ja oft auch online gemeinsam mit anderen gespielt werden, sowie virtuelle Lebenswelten in Social Media“, so Steinborn. Dabei erklärt der Medienpädagoge zudem: „Bei queeren Jugendlichen kann das Queersein und das Interesse am Zocken eine verbindende Eigenschaft sein.
Es gibt beispielsweise bei einigen Online-Games queere Spiele-Gilden, in denen sich queere Menschen zusammenfinden und nicht nur über das Spiel reden und diskutieren, sondern auch über ihren Alltag, ihre Erlebnisse, Erfahrungen und Herausforderungen. Das sind auch ernstzunehmende Sozialräume. Deswegen halte ich es wichtig, zu differenzieren und zu fragen: Über welche Spiele reden wir? Ein Multiplayer-Game, das auch eine soziale Komponente hat und zwischenmenschliche Interaktion beinhaltet und oft auch zu digitaler Vernetzung über das Spiel hinausführt, ist eine andere Form von Spielen als einzeln mit Konsole, Handy oder PC über Stunden ein Single-Player- Game zu nutzen.“
Queere Menschen haben eine „höhere Suchtneigung“
Fakt ist, jeder vierte Risiko-Gamer:in spielt am Wochenende täglich fünf Stunden und mehr. Und insgesamt 72,5 Prozent der Jugendlichen in Deutschland spielen bereits regelmäßig Computerspiele, so die DAK-Studie. Insgesamt tauchen dabei knapp 90 Prozent aller Jungen und gut 50 Prozent der Mädchen in digitale Welten ab. „Aus Spaß kann schnell Sucht werden“, sagt Andreas Storm, Vorstandschef der DAK-Gesundheit. So wie bei diesem Streamer, der über Twitch glücksspielsüchtig wurde. Das müsse man verhindern.
„Wir brauchen wie in Belgien und den Niederlanden ein Verbot von Loot-Boxen oder Glücksrädern. Außerdem sollten für Gamer Warnhinweise eingeblendet werden, wenn bestimmte Spielzeiten überschritten sind“, so die Forderungen von Storm. Steinborn von anyway erklärt zudem: „Wir wissen aus verschiedenen Studien, dass queere Menschen insgesamt eine höhere Suchtneigung bei Substanzkonsum wie Tabak und Alkohol aufweisen als Vergleichsgruppen. Ein Grund dafür kann der erhöhte Minderheitenstress sein.“ Beim Thema Gaming und Spielsucht fehle es indes noch an Daten.
Noch dazu sind queere Jugendliche, die sich an anyway oder andere LGBTQIA+-Stellen gewandt haben, bereits einen ersten wichtigen Schritt gegangen, um der Vereinsamung vor dem Computerbildschirm entgegenzuwirken. Die Krisenfälle wenden sich wahrscheinlich so erst gar nicht an Beratungseinrichtungen. Dazu kommt: „Leider haben auch nur ein Bruchteil der Jugendlichen eine queere Jugendeinrichtung in ihrer Nähe. Hier besteht sehr großer Handlungsbedarf.“
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Videospiele bei queeren Jugendlichen: „Die Chancen überwiegen hier erstmal die Nachteile“
Generell muss dabei laut Steinborn aber auch die andere Seite der Medaille gesehen werden; Spiele der neueren Generation bieten gerade für queere Jugendliche auch Vorteile: „Es ist eine große Chance und eine tolle Weiterentwicklung im Sinne der Vielfalt, dass es endlich viel mehr queere Charaktere und Spielewelten gibt. Das ist ein Stück Normalität, die vorangegangen Generationen queerer Menschen nicht erleben durften.“ Die Spiele seien damit auch eine Chance für die Jugendlichen, etwas zu erleben, zu experimentieren und Gefühle spielerisch auszuprobieren.
„Das ist etwas, was queeren Jugendlichen im Vergleich zu heterosexuellen Jugendlichen oft in jüngeren Jahren verwehrt bleibt. Weil es eben nicht automatisch in der Pubertät Gleichaltrige gibt, die auch queer sind und mit denen man die Schwärmereien, die erste Berührung, das erste Verliebtsein oder den ersten Kuss ausprobieren kann.“ Auch hier sei allerdings wichtig, dass, ähnlich wie bei Social Media, bewusst und reflektiert konsumiert werde, ansonsten könne dies zu „unbewussten und verzerrenden Wahrnehmungen“ führen, die den Druck auf queere Jugendliche sogar noch verstärken können. Grundsätzlich hält Steinborn mit Blick auf Computerspiele und queere Jugendliche allerdings fest: „Die Chancen überwiegen hier erstmal die Nachteile.“
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