100.000 Tote bei deutschem Völkermord: „Die Deutschen haben gestohlen und geplündert“

Über die Gräueltaten an den Herero und Nama gibt es bis heute nur wenig Aufklärung. Der Film „Der vermessene Mensch“ könnte das ändern.
Deutschland im späten 19. Jahrhundert: Es ist die Zeit, in der an deutschen Universitäten Rassentheorie gelehrt wird. Der Wissenschaftler Alexander Hoffmann steht in einem Seminarraum einer deutschen Universität und hält ein graues, klobiges Messgerät in seiner Hand. Er vermisst den Kopf von Kezia Kambazembi, die dem Volk der Herero angehört. Um die beiden herum führen weitere Wissenschaftler:innen Rassenexperimente an anderen Herero durch. Während Hoffmanns Messgerät ihren Kopf streift, laufen Kezia Tränen über die Wangen.
Diese Szene ist Teil des Films „Der vermessene Mensch“, der ab dem 23. März im Kino läuft. „Wie kann ein Mensch einen anderen Menschen so behandeln?“, schoss es der namibischen Schauspielerin Girley Charlene Jazama, die Kezia spielt, bei dieser Szene durch den Kopf. „Ich fühlte mich, als wäre ich ein Pferd, das jemand kaufen will: Du prüfst die Zähne. Du prüfst die Hufe. Du prüfst die Haare. Ich fühlte mich missbraucht“, erzählt sie gegenüber BuzzFeed News DE.
100.000 Herero und Nama starben durch den Völkermord der Deutschen
„Der vermessene Mensch“ behandelt den Völkermord der Deutschen an den Herero und Nama, zwei afrikanischen Völkern im heutigen Namibia. Deutsche Truppen ermordeten laut der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) schätzungsweise bis zu 100.000 Menschen, ein Teil davon verdurstete in der Omaheke-Wüste oder starb in Konzentrationslagern.
Der Genozid gilt als der erste des 20. Jahrhunderts. Trotzdem erkannte Deutschland das Verbrechen jahrzehntelang nicht an. Auch in meiner Schulzeit (2002-2014) war der Völkermord nie Thema, als es um Kolonialgeschichte ging.
Ihre Ur-Ur-Großmutter wurde im Konzentrationslager der Deutschen vergewaltigt, erzählt die Nachfahrin
Jazama ist selbst eine Herero. Kurz vor dem Dreh erfuhr sie, dass ihre eigene Geschichte stark mit dem Völkermord verbunden ist. Ihre Ur-Ur-Großmutter war Gefangene des Konzentrationslagers „Alte Feste“, das von den Deutschen im heutigen Namibia errichtet wurde. Ihre Tante erzählte Jazama, dass ihre Ur-Ur-Großmutter eine „Tee-Dame“ des dortigen Kommandeurs war. Im Lager wurde sie vergewaltigt. Ihr Kind – Jazamas Urgroßmutter.
Jazama ist somit auf eine gewisse Art das „Nebenprodukt einer Vergewaltigung“, wie sie selbst sagt. Als ihr das bewusst wurde, habe sie um ihre Vorfahren getrauert – um ihre Ur-Ur-Großmutter, aber auch um ihre Urgroßmutter, ihre Großmutter und Mutter. „Wir alle stammen davon ab.“

Die Schädel und Objekte der Herero landeten in deutschen Museen
„Der vermessene Mensch“ zeigt, dass die Taten der Wissenschaft beim Völkermord ebenso verwerflich sind wie die offensichtlichen Gräueltaten: Hoffmann reist im Film mit den Truppen mit, um Kunstwerke und Objekte der Herero einzusammeln. Er schickt sie nach Deutschland, damit sie dort in Museen ausgestellt werden können. Ähnlich wie im Film dargestellt, handelten deutsche Wissenschaftler:innen in dieser Zeit.
In den Konzentrationslagern werden die Herero gezwungen, die Schädel ihrer getöteten Angehörigen zu säubern. Im Film ist auch Kezia unter den Arbeiter:innen. Der Drehort habe, wie damals wohl die Konzentrationslager, nach Tod gerochen. „Als wir die Szene fertig gedreht haben, habe ich stundenlang geweint.“ Auch diese Schädel landen später im Museum – im Film, sowie in der Realität.
Der Völkermord hat bis heute einen Einfluss auf das Volk der Herero und Nama
Die Debatte um kolonialistische Raubkunst in deutschen Museen wird immer lauter. Im vergangenen Jahr gab das Ethnologische Museum in Berlin 23 Artefakte an Namibia zurück, wie der Spiegel berichtet. Es handelte sich den Berichten zufolge jedoch nur um eine Dauerleihgabe. „Mich stört dieser Begriff des Leihen“, sagt Jazama gegenüber BuzzFeed News DE. „Die Deutschen haben gestohlen und geplündert. Und sie haben getötet.“
Hunderte weitere Schädel und Objekte aus Namibia lagern weiterhin in deutschen Museen und wissenschaftlichen Archiven. Jazama fordert, dass sie endlich an ihre rechtmäßigen Besitzer:innen zurückgegeben werden. „Wir sind noch immer nicht geheilt, weil wir nicht in der Lage sind, unsere Vorfahren auf würdige Weise zu begraben.“
Auf die namibische Bevölkerung, insbesondere auf das Volk der Herero und Nama, hat der Völkermord bis heute einen Einfluss. „Wir hatten Vieh. Wir hatten Land. Jetzt haben wir nichts davon, weil sie uns beides genommen haben“, sagt Jazama gegenüber BuzzFeed News DE. Die meisten Farmen gehören den Deutschen, kritisiert sie, sowie der Elite in Privatbesitz.
„Der vermessene Mensch“ soll das Schweigen der Herero brechen
Wäre der Film nicht gewesen, hätte Jazama nie Nachforschungen betrieben und von ihrer Geschichte erfahren. Ihre Eltern und Großeltern sprachen nie mit ihr über ihre traumatische Vergangenheit. Dieses Schweigen von Jazamas Familie zieht sich bis heute durch das Volk der Herero.
Jazama bezeichnet ihre Rolle in „Der vermessene Mensch“ deshalb als „Stimme der Stimmlosen“. Sie versucht das Sprachrohr für die Menschen in Namibia zu sein, die weltweit nur wenig zu Wort kommen. Noch immer gibt es über Afrika rassistische Klischees, wie eine TikTokerin zeigt. Jazama hofft, dass der Film auf globaler Ebene zum Gespräch über den Völkermord an den Herero und Nama führt.