Vtubing, oder virtuelles YouTubing, hat sich zu einem weit verbreiteten Phänomen in der Welt des anonymen Streamings entwickelt. Die Creator:innen filmen mit einem holografischen Avatar, der mithilfe von Motion-Capture-Trackern und Anzügen an ihre Bewegungen angepasst wird. Das Format stammt ursprünglich aus Japan, hat sich aber inzwischen weltweit durchgesetzt.
In Japan gründen sich Vtuber-Kollektive wie VShojo und Nijisanji wie K-Pop-Gruppen, mit Vorsprechen, Training und einer offiziellen Veröffentlichung des ersten Videos. Apropos K-Pop: Hast du mitbekommen, dass die südkoreanische Boygroup BTS zur Wehrpflicht muss und dafür ihre Musik-Karriere pausiert? Seit Vtuber-Kollektive immer bekannter wurden, gibt es auch eine wachsende Welle unabhängiger Vtuber aus den USA. Und auch berühmte Marken sind mit an Bord: Tony der Tiger von der Cornflakes-Marke Frosted Flakes kündigte im August auch einen Vtube-Twitch-Kanal an.
Die Vtubing-Kultur hat eine Kontroverse ausgelöst. Frauen in der Gaming-Branche sind schon seit langem Belästigungen im Internet ausgesetzt. Da Vtubing dazu neigt, Bilder zu verwenden, die an Anime erinnern – eine Form der Illustration, die zum Großteil auf den männlichen Blick ausgerichtet ist – werden Charaktere schnell sexualisiert. Viele Vtuberinnen erzählten BuzzFeed News US jedoch, dass sie sich mit diesem Format vor sexueller Belästigung schützen können, indem sie die Belästigung auf ihre Figuren umlenken.
„Wenn jemand etwas sagt wie ‚Die Titten deiner Anime-Figur sind riesig‘, stört mich das nicht so sehr“, sagte Vtuberin Aruuu gegenüber BuzzFeed News US. „Wenn jemand über meinen echten Körper spricht, dann stört mich das schon ein bisschen, weil ich das nicht ändern kann. Aber bei meinem Avatar kann ich das.“
Sex verkauft sich in jedem Bereich der Popkultur, aber in der digitalen Welt von Vtubing ist er nicht wegzudenken. Vergangenen Monat kritisierten Fans die Vtuber-Agentur Hololive, als Vtuberinnen begannen, mit Männern auf ihren Kanälen zusammenzuarbeiten. Die Fans waren der Meinung, dass diese für eine „Girlfriend Experience“ bezahlt hatten. Sie hatten das Gefühl, dass die Zuneigung der Streamerinnen an sie gerichtet war und die Anwesenheit von Männern in den Streams dies für sie ruinierte.
Auf Plattformen wie Reddit gewinnen Threads mit anzüglichen Illustrationen und Hentai-Kunst von Vtuberinnen immer mehr Aufmerksamkeit. Einige Vtuber haben nun auch begonnen, Erwachseneninhalte zu produzieren und bauen sich Fandoms auf Plattformen für pornografische Inhalte auf (und ja, es gibt auch anzügliches Material zu dem Vtube-Kanal von Tony der Tiger).
Aruuu begann zunächst als Streamerin vor der Kamera und baute sich eine Fangemeinde von über 121.000 Abonnenten auf. Ständig musste sie Kommentare und Belästigungen über ihr Aussehen ertragen. Viele Frauen sind solchen Belästigungen ausgesetzt – auch auf Instagram. Sich beim Streamen hinter einen Avatar zu stellen gibt ihr die Freiheit, weiterhin Inhalte zu teilen, die sie liebt.
„Ich liebe meinen Avatar“, sagte sie. „Ich habe mich entschieden, ihr diese großen Brüste zu geben. Ich habe mich entschieden, ihr diesen kurzen Rock zu geben. Man kann sie sexualisieren, wie man will, am Ende des Tages ist sie nur eine Figur.“
Aruuu hat einige Ähnlichkeiten mit ihrem Vtube-Avatar – beide haben große Augen und lange, dunkle Haare. Der Avatar hat einen Halbmond und einen Stern auf die Stirn tätowiert, eine Anspielung auf die türkische Herkunft der Creatorin. Doch damit enden die Überschneidungen: Während der Avatar rote Augen, Wolfsohren und eine sehr kurvige Figur hat, ist Aruuus Körperbau in Wirklichkeit zierlich und schlank. Als wir uns in San Diego trafen, trug sie eine Brille und einen Halloween-Pulli mit „Winnie Pooh“-Motiv.
Bevor sie vtubte, so Aruu, wurde sie ständig wegen ihres Aussehens kritisiert. Entweder wurde ihr gesagt, sie sei nur berühmt, „weil du ein hübsches Mädchen im Internet bist“, oder dass sie nur verzweifelt versuche, mehr Zuschauer:innen zu bekommen. Zeitweise war ihre körperliche Sicherheit in Gefahr. „Ich musste schon mal die Polizei zu einer Veranstaltung rufen“, sagte sie. „Bei Männern habe ich das Gefühl, dass alles an mir kritisiert wird.“ Vtubing eröffnete ihr einen anderen Weg.
Es kann allerdings schwierig sein, mit Vtubing anzufangen, weil es eine spezielle Technologie erfordert. Aruuu ist eine der vielen Vtuber, die ihre Kanäle ausbauen konnten, nachdem sie Iron Vertex beauftragt haben. Iron Vertex ist eine Agentur, die Streamer:innen beim Design von Avataren und der Rigging-Technologie für deren Animation hilft.
Wusstest du, dass es mittlerweile mithilfe von CGI-Techniken möglich ist, digitale Models zu erstellen, die täuschend echt aussehen?
Die Vorabkosten beliefen sich auf etwa 10.000 US-Dollar, um ihr gesamtes Set an Overlays, das Avatar-Design, das Lore-Video (fantastische Geschichten über die Ursprünge des Charakters, die zusammen mit dem Debüt veröffentlicht werden) zu kaufen. Sie hatte zwei Jahre lang gespart und ihre Einnahmen aus den Streams, bei denen sie vor der Kamera war, verwendet, um alles zu bezahlen.
„Es ist sehr, sehr teuer“, sagte Aruuu. „Ich habe viel gespart, weil ich dachte, wenn ich schon Vtuberin werde, dann will ich es auch richtig machen. Für sie bedeutete das, zu respektieren, dass für die Erstellung eines Avatars Originalität erforderlich ist.
Viele Künstler:innen haben bereits ihre Frustration darüber zum Ausdruck gebracht, dass Fans KI-Lernmaschinen eingesetzt haben, um Nachahmungen ihrer Vtube-Designs zu erstellen. Aruuu hat anderthalb Jahre lang mit Iron Vertex gearbeitet, um ihre Figur zu entwerfen. „Der Skizzier-Prozess bereitete mir ziemliche Kopfschmerzen, weil ich sehr anspruchsvoll bin“, sagte sie.
Nach dem Entwurf arbeitete Aruuu mit einer Technikerin zusammen, um die Gesichtsausdrücke ihrer Figur zu animieren. „Sie sagte: ‚Okay, fang an, für mich so breit wie möglich zu lächeln.‘ ‚Zieh deine Augenbrauen ein bisschen mehr hoch.‘ So konnte das Modell speziell auf mein Gesicht abgestimmt werden.“
Uguubear, eine weitere unabhängige Vtuberin mit 59.000 Abonnenten, beschloss ebenfalls, mit dem Vtubing anzufangen, nachdem sie sich unsicher gefühlt hatte, zu livestreamen, wie sie Videospiele spielt und Kunst schuf. „Ich mache viele komische Gesichter, wenn ich zeichne“, sagte sie. „Ich möchte mir darüber keine Gedanken machen müssen, weil manche Leute schauen den Stream nur, um zu kommentieren, wie du aussiehst.“
Zuerst versuchte sie, ihre Kamera einfach auszuschalten, aber das verwirrte die Leute, die auf ihren Stream gingen und mit einem schwarzen Bildschirm begrüßt wurden, sodass sie einen Avatar bei einem Künstler in Auftrag gab. Das half auch dabei, Hasskommentare, die an sie gerichtet wurden, zu verringern.
„Wenn Leute etwas zu deinem Avatar sagen, ist das nicht direkt an dich gerichtet“, sagte sie. Durch das Streaming hinter einem Avatar wurden auch die positiven Kommentare über ihre Verhaltensweisen deutlicher. „Mir wird ganz warm ums Herz, wenn ich höre, dass die Leute mein Lachen mögen, denn das machte mich bisher immer unsicher.“
Eine weitere Hürde für Indie-VTuber ist, dass mehr Verantwortung auf die Creator:innen als auf ein Unternehmen fällt. Um den Aufbau einer Welt rund um die Figur müssen sie auch Zeit und Geld investieren. Uguubear sagte, dass die Idee, ein Story-Video zu machen, sie interessiert – statt die Fantasie ihrer Zuschauer:innen zu bedienen, hofft sie, dass sie die Gelegenheit nutzen kann, um ihre tatsächliche Lebensgeschichte als koreanisch-amerikanisches Adoptivkind zu erzählen. „Auf TikTok habe ich mir eine Menge Videos von anderen Adoptivkindern angesehen und das hat etwas in mir ausgelöst“, sagte sie. „Ich möchte in der Lage sein, mit solchen Menschen in Kontakt zu treten.“
Im Gegensatz zu den Creator:innen, die bei Agenturen unter Vertrag stehen und deren Chat-Feeds von Support-Mitarbeiter:innen überwacht werden, müssen Indie-Creator:innen selbst Kontakt mit ihrer Community pflegen. Uguubear erzählte, dass sie bestimmte Worte gesperrt hat und sich zusätzlich darauf verlässt, dass ihre Follower:innen selbst ein harmonisches Miteinander aufrechterhalten.
Aruuu gibt anderen Creator:innen Tipps, wie sie unpassende Inhalte aus ihren Feeds herausfiltern können. Zum Beispiel, indem sie ein Tagging-System in den sozialen Medien verwendet, damit anzügliche Zeichnungen als solche gekennzeichnet werden. Anzüglich sind auch Negging-Kommentare, die Personen eigentlich beleidigen, sich aber wie Komplimente anhören. „[Sexualisierung] wird es in jeglichen Formen von allem möglichen geben“, sagte Uguubear. „So ist das nun mal.“
Es wäre nachlässig, über die Sexualisierung im Vtubing zu sprechen, ohne den starken Zusammenhang zur Fetischisierung asiatischer Frauen zu erwähnen. Natürlich sind Fetische wie der „Breeding Kink“ beispielsweise nichts Schlechtes, trotzdem drängt sich beim Vtubing der Gedanke auf, dass vor allem weiße, männliche Personen von der Fetischisierung der Vtuber profitieren.
Auf der TwitchCon waren einige Leute, die ich zur Hypersexualisierung von Vtubern mit den Avataren asiatischer Frauen befragte. Sie waren unsicher, wie sie dazu stehen. „Es gefährlich, so ein Thema zu besprechen“, sagte Twitch-Nutzer Jakkc728 außerhalb des offiziellen Twitch-Vtuber-Panels. „Jede Person hat eine andere Meinung.“
Aber das Thema war nun mal unvermeidlich. Ich wurde ständig mit künstlerischen Darstellungen asiatischer Frauenkörper konfrontiert, die von einem überwiegend weißen, überwiegend männlichen Blick konsumiert wurden. An einem Stand auf der Messe, an dem „Waifu Cups“ verkauft wurden, drängten sich Männer um den Tisch. Bei der Podiumsdiskussion sprach der Uguubear vor einem Publikum, das überwiegend aus weißen und asiatischen Männern bestand. Sogar die Creator:innen selbst müssen sich mit ihrer Rolle in diesem Prozess auseinandersetzen.
Kisaka Toriama, eine weitere Vtuberin, die sich nicht als Asiatin identifiziert, sagte, sie habe ihren Alias mit japanisch klingenden Lauten erfunden und war inspiriert von „Dragon Ball Z“, einer ursprünglich von Akira Toriyama geschaffenen Anime-Serie. „Ich denke, dass es ein wichtiges Gesprächsthema ist, denn es geht darum, eine Kultur zu respektieren und eine andere Sprache sozusagen in die eigene Sprache zu übernehmen“, sagte sie.
Bei der Ausstellung erzählte mir die Illustratorin Rinne Kanzaki, dass die Fetischisierung – vor allem gegenüber asiatischen Frauen – ziemlich verbreitet sei. „Es ist wirklich bizarr, und ich finde es auch seltsam“, sagte er. „Aber manchmal muss man Kunst einfach als Kunst betrachten.“
Zwischen den Ständen der Künstler:innen, umgeben von Reihen von Brüsten, die so groß sind wie ich von Kopf bis Fuß, und Taillen, die so schmal sind wie mein kleiner Finger, fragte ich mich, ob ich zu prüde sei. Andere gingen völlig unbeeindruckt daran vorbei.
„Ich sehe eine Menge Brüste“, sagte Kamaniki. Obwohl es die Technologie von Vtube ermöglicht, dass jede Art von Avatar verwendet werden kann, zeigt sich in der Plattformkultur, dass diejenigen Avatare am beliebtesten sind, die hypersexualisierte asiatische Frauen darstellen. Genau das war auch auf der Twitchcon deutlich zu erkennen. Die Homogenität, dieser eine unrealistische Körpertyp, der immer wieder gezeigt wird, macht es mir schwer, Vtubing als einen Gewinn für die feministische Bewegung zu sehen. Denn ja: du kannst deinen Avatar zwar auch so wie Heidi Klums Wurmkostüm gestalten, aber das bedeutet wahrscheinlich, dass du nicht so beliebt sein wirst.
Leute werden aufgrund meiner Persönlichkeit meine Streams verfolgen und nicht wegen meines Aussehens.
In vielerlei Hinsicht bietet das Format Frauen die Möglichkeit, genau so dargestellt zu werden, wie sie sich es wünschen – eine Erleichterung für Vtuber, die verzweifelt versuchen, ihren Körper nicht zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu machen. Oder die kontrollieren wollen, wie sie wahrgenommen werden. Aruuu sagt, dass ihr Publikum hauptsächlich aus Frauen besteht, seit sie zum Vtubing übergegangen ist.
„Wenn ich Vtubing betreibe, wird mir eine Last von den Schultern genommen“, so Aruuu. „Zwar habe ich ein paar Zuschauer:innen verloren, aber ich weiß, dass es sich letztendlich auszahlen wird, weil die Leute mir wegen meiner Persönlichkeit folgen und nicht wegen meines Aussehens.“
Autorin dieses Textes ist Steffi Cao. Der Artikel erschien am 2. November 2022 auf buzzfeednews.com. Aus dem Englischen übersetzt von Lea Samira Maier.